Wie viel Medienzeit für Kinder ? Interview mit Patricia Cammarata

Nicht erst seit Corona steigt die tägliche Medienzeit der Kinder rapide. Und vielen Eltern ist die ständige Nutzung von Computer, Ipad und Handy ein Dorn im Auge. Doch wie findet man mit seinen Kinder das richtige Maß, warum bringen zeitliche Begrenzungen wenig und wann ist der richtige Zeitpunkt für das erste Smartphone? Wir haben die Medien-Expertin Patricia Cammarata gefragt…

Frau Cammarata, Medienzeiten im Halbstundenrhythmus zu vereinbaren ist nicht der richtige Weg, sagen Sie in Ihrem Buch “Dreißig Minuten, dann ist aber Schluß!”. Wie soll man stattdessen vorgehen, damit Kinder nicht unbegrenzt mit den Geräten zugange sind?

Patricia Cammarata: Die Frage ist doch: Warum will man begrenzen? Wenn die Antwort ist: Damit andere Dinge nicht vernachlässigt werden, dann ergibt sich eine Begrenzung, indem man Prioritäten setzt. Erst Schulsachen oder zum Beispiel Sport oder die Aufgaben im gemeinsamen Haushalt, dann Medienzeit.

Wenn die Antwort ist: damit bestimmte Dinge nicht passieren, dann muss man sich fragen, was genau diese Dinge sind, die man befürchtet, und ob man dann nicht eher über Inhalte und Aufklärung nachdenken sollte als über Zeiteinheiten. Das wären jedenfalls für mich die relevanten Leitfragen, die man dann je nach Alter durchspielen kann.

Wann ist der richtige Zeitpunkt für ein eigenes Smartphone?

Wenn das Kind ausreichend aufgeklärt ist. Wenn es etwa weiß, was Cyber-Mobbing ist und wie die dahinter liegenden Mechanismen sind und was man präventiv dagegen tun kann. Wenn es grundlegende Themen wie das Recht am eigenen Bild kennt, wenn es weiß, was Cyber-Grooming ist, wenn es weiß, was Fake-News sind und wie man Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen kann. Wenn es weiß, dass man auch im Internet respektvoll und wertschätzend miteinander umgeht… Es kommt also stark auf die Aufklärungsarbeit der Eltern und der Schule an.

Ab wann etwa können Kinder mit YouTube umgehen?

Ungefähr dann, wenn sie ein eigenes Smartphone haben können (siehe oben). Wenn sie wissen, wie sie mit verstörenden Inhalten umgehen, wenn sie wissen, wie man sich davor schützt, wenn sie wissen, was Geschlechtsstereotypen sind, wenn sie wissen, was Hate-Speech ist…

Ist YouTube Kids wirklich eine Alternative?

Für Drei- bis Sechs- oder Siebenjährige vielleicht. Danach interessieren sich die meisten für YouTube-Influencer, und die sind alle nicht auf YouTube Kids. Das ist dann ziemlich sicher der Moment, in dem Kinder lernen, die App zu umgehen und an die ungefilterten Inhalte zu kommen.

Wann dürfen/können Kinder einen eigenen YouTube-Kanal gründen? Und wenn sie es tun, worauf sollte man achten?

Dazu könnte man ein weiteres Buch schreiben. Die AGB geben nicht ohne Grund 16 als Alter an (mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten geht es schon früher). Es gibt so viel zu beachten, denn Bewegtbildproduktion ist ein sehr komplexes Thema. Welche Musik darf man als Untermalung verwenden? Welche Informationen gibt man unter Umständen versehentlich preis, weil man im Hintergrund persönliche Informationen sieht? Wie geht man mit der Bewertung des Aussehens um? Wen darf man in welcher Situation eigentlich filmen?

Warum ist WhatsApp in Ihren Augen so gefährlich? Und was sind sinnvolle Alternativen?

WhatsApp sammelt exzessiv Daten, wertet sie aus und gibt sie weiter. Dazu zählen neben Telefonnummer, Ländervorwahl, App-Version, Netzwerkcode sowie Geräteinformationen wie Modellnummer und Betriebssystemversion auch Nutzungsdaten wie Registrierungsdatum sowie Art und Häufigkeit der Nutzung. WhatsApp sammelt also Metadaten: Wer wann wie oft mit wem zu welcher Uhrzeit wie lange von wo schreibt.

Was so harmlos klingt, ist ein Milliardengeschäft. Durch Facebooks Monopolposition kann der Konzern schalten und walten, wie er möchte, kann frei bestimmen, wem und zu welchem Preis er Zugang zu den gesammelten Daten gewährt. Alternativen sind Threema und auch die App Wire.

Wahrscheinlich wird es wegen der Verbreitung von WhatsApp schwer, Kinder für einen anderen Messengerdienst zu begeistern. Allerdings sollte man nicht müde werden, diese Alternativen zu benennen und Kindern mindestens klar machen: Du brauchst dich nicht auf einen Messenger beschränken, du kannst auch für 30 Kontakte fünf unterschiedliche haben, und das ist immer noch besser, als ausschließlich WhatsApp zu nutzen.

TikTok – ab welchem Alter kann man den Kindern das erlauben? Was sind die „Gefahren“ von TikTok und/oder SnapChat, was die Vorteile, also etwa der Spaßfaktor?

TikTok hat einen sehr großen Unterhaltungswert. Man kann sich Stunden durch die Timeline scrollen, und weil die Clips so kurz sind, hat man immer das Gefühl „Ach den, den und den noch, dann kommt wieder was Cooles!“, und so ist es auch.

Ich sehe TikTok aber nicht wegen der Sogwirkung oder der möglicherweise verstörenden Inhalte kritisch. Die gibt es auf anderen Plattformen auch. Was ich mit Kindern bei TikTok besprechen würde, wäre eher: „Möchtest du eine Plattform unterstützen und nutzen, die in der Vergangenheit die Reichweite von queeren, behinderten und sogar angeblich ,hässlichen‘ Menschen eingeschränkt hat, um diese Menschen angeblich vor möglichem Mobbing zu schützen?“

Können Sie drei Computerspiele für Vorschüler empfehlen?

Für Vorschüler kann ich alle Apps von TOCA BOCA empfehlen. Generell muss man in diesem Alter darauf achten, dass altersgemäße Inhalte gezeigt werden, dass die Apps bestenfalls keine Werbung und InApp-Käufe beinhalten und nicht unnötig persönliche Daten abfragen und tracken.

Warum hält sich so hartnäckig die Einstellung, dass Computerspielen süchtig und/oder realitätsfremd macht?

Ich befürchte, dass vor allem Menschen, die selbst nicht spielen oder gespielt haben, diese Vorurteile hegen, weil die oft durch diverse Zeitungsartikel transportiert werden. Man liest in der Mainstream-Presse zum Beispiel sehr selten über gute Computerspiele. Ich hoffe, das wird sich zukünftig ändern. So hat der Deutsche Computerspielpreis dieses Jahr erstmalig die Kategorie „Bestes Familienspiel“.

Darüber hinaus würde es schon sehr helfen, wenn man sich selbst mal ein paar Let’s Plays auf YouTube zu dem entsprechenden Spiel anschaut und sich von den Kindern erklären lässt, was sie so fasziniert.

Was tun, wenn das Kind stundenlang Brawl Stars spielt, weil „alle“ in der Klasse es tun und sich zum Gruppenspiel verabreden?

Ich tue mich sehr schwer, diese Frage so zu beantworten. Ist es wirklich stundenlang? Ist es jeden Tag? Werden andere, wichtige Themen vernachlässigt? Warum hat man dabei ein schlechtes Gefühl?

Ich halte speziell Brawl Stars für kein gutes Spiel, aber genau das würde ich mit meinem Kind besprechen. Mache ich mir Sorgen, weil es sehr unter Gruppendruck gerät? Mache ich mir Sorgen wegen möglicher Geldausgaben?

Instagram und Körperbild: Wie mache ich meinen Kindern klar, dass das eine fiktive Welt ist, die (oft) wenig mit der Realität zu tun hat?

Indem man mit ihnen darüber spricht, dass es bei manchen Accounts so ist. Aber auch auf Instagram gibt es nicht nur die utopischen Körperbilder. Es gibt auch Accounts und Hashtags, die Vielfalt zeigen und die genau diese Schönheitsstereotypen nicht reproduzieren. Die sollte man sich gemeinsam mit den Kindern anschauen. Am besten man stellt gleich, wenn Kinder einen Account auf Instagram haben wollen, eine vielfältige Timeline zusammen. Die wächst dann nach und nach, denn in der Regel empfehlen „gute“ Accounts ähnliche Accounts.

Auch darf man den Kindern etwas zutrauen. Im Alter von 13 oder 14 Jahren sind Jugendliche sehr wohl in der Lage zu verstehen, was Inszenierung ist und wie Photoshop funktioniert. Wenn man diese Themen zu Hause bereits thematisiert hat, dann kann man davon ausgehen, dass Jugendliche diese Themen selbst kritisch reflektieren können.

Haben Sie Tipps, wie man Kinder medienfit macht und als Eltern nicht den Anschluss an deren Welt verliert?

„Medienerziehung leicht gemacht“? Das gibt es nicht, aber drei Faustregeln.

  • Erstens: mit der Medienerziehung so früh wie möglich anfangen, nicht erst im Teenageralter.
  • Zweitens: Die Eltern-Kind-Beziehung stabil, offen und vertrauensvoll gestalten, denn sie ist der beste Schutz. Selbst vor den Gefahren des Internets.
  • Drittens: auch Scheitern und Fehler zulassen, aber stets dazulernen!

 

Medienzeit für KinderZur Person:

Diplom-Psychologin Patricia Cammarata
ist Autorin und Podcasterin (u. a. nur30min.de). Seit 2004 schreibt sie unter dasnuf.de ins Internet und das so erfolgreich, dass sie bereits mehrere Preise gewonnen hat. Sie hat ein großes Faible für digitale Themen. Deswegen soll ihr Buch „Dreißig Minuten, dann ist aber Schluss!“ Eltern ermutigen, den Anschluss an die Welt der Kinder und Jugendlichen nicht zu verpassen.

 

Bilder: Gettyimages (2), privat (1)