Kurzsichtigkeit bei Kindern: So kann man vorbeugen

Immer mehr Kinder werden kurzsichtig. Liegt es daran, dass sie gerade zu viel auf Bildschirme starren? Wir haben einen Fachmann gefragt, was man vorbeugend gegen Kurzsichtigkeit tun kann – und einen ebenso einfachen wie wirksamen Tipp bekommen…

Herr Dr. Ehrt, wie entsteht eigentlich eine Fehlsichtigkeit bei Kindern?

Professor Dr. med. Oliver Ehrt: In den meisten Fällen hat es mit der Größe des Auges zu tun. Darum entwickelt sich die Kurzsichtigkeit meist in der Pubertät, denn da wächst der ganze Körper und eben auch das Auge verstärkt. Ein größeres Auge wird rein optisch gesehen kurzsichtig. Ein Auge, das nicht so viel gewachsen ist, bleibt weitsichtig. Was viele nicht wissen: Bei Geburt sind fast alle Kinder weitsichtig, die Augen sind eben noch sehr klein.

Zurzeit werden in Deutschland etwa die Hälfte der Kinder im Schulalter kurzsichtig, einige sind normalsichtig und brauchen keine Brille, und einige Kinder bleiben stark weitsichtig, was ebenfalls durch eine Brille ausgeglichen werden kann.

50 Prozent der Kinder werden kurzsichtig? Das ist aber ein hoher Prozentsatz.

Ja, davon geht man gerade aus. In Asien sind es sogar teilweise über 95 Prozent der Kinder, die kurzsichtig werden.

Die Kurzsichtigkeit entsteht also rein durch das vermehrte Augenwachstum?

Ja, es gibt Studien darüber, was das Augenwachstum fördert. Gerade in den letzten Jahren wird in der Augenärzteschaft viel darüber diskutiert, wie man das Augenwachstum einbremsen kann. Dafür gibt es mehrere Optionen. Die einfachste, die ich allen Eltern empfehle, ist: Die Kinder sollten täglich ein bis zwei Stunden draußen im Tageslicht verbringen. Denn man weiß inzwischen, dass das helle Tageslicht das Augenwachstum einbremst.

Kinder Kurzsichtigkeit

Die Änderung unserer Tätigkeit, also dass wir uns immer mehr in geschlossenen Räumen aufhalten, arbeiten und lernen, ist mit Sicherheit ein großer Faktor, der zur Zunahme der Kurzsichtigkeit beiträgt. Besonders in China ist das ganz extrem. Vor hundert Jahren waren dort nur ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung kurzsichtig, meist waren es die Gelehrten im Kaiserpalast. Die Landbevölkerung dagegen war weitgehend normalsichtig.

Inzwischen ist das Schulsystem in China sehr anspruchsvoll, den Kindern wird viel abverlangt und sie müssen viel Zeit mit Lernen in geschlossenen Räumen. Dadurch hat auch die Kurzsichtigkeit stark zugenommen.

Darum gibt es immer wieder Berichte zu lesen, dass die Schulgebäude in China so gebaut werden, dass möglichst viel Tageslicht in die Räume fällt.

Ja genau. Wenn man misst, wie viel Licht draußen ist im Vergleich zu drinnen, ist das ein riesiger Unterschied. Auch an einem bedeckten Tag ist es draußen immer noch viel, viel heller als in einem beleuchteten Innenraum. Wir nehmen das nicht so sehr wahr, weil unser Auge sich gut anpassen kann. Aber der effektive Helligkeitsunterschied ist enorm. Und dieser Aufenthalt draußen im Tageslicht bremst das Wachstum der Augen nachweislich.

Wie oft sollte man die Augen bei einem sich normal entwickelnden Kind vorsorglich kontrollieren lassen?

Regelmäßige Kontrollen sind immer auch Teil der U-Untersuchungen beim Kinderarzt. Der Gesetzgeber in Deutschland hat ansonsten keine regelmäßige Augenarztkontrolle vorgesehen. Doch bei unauffälligen Kindern empfehlen wir, etwa mit zwei Jahren beim Augenarzt vorbeizuschauen. Wenn keine Auffälligkeiten festgestellt werden, dann reicht es vielleicht, noch einmal vor der Einschulung zu prüfen, ob sich schon eine Kurzsichtigkeit zeigt.

Sie sagten, die meisten Kinder sind weitsichtig bei Geburt. Das verliert sich später?

Fast 90 Prozent der Kinder sind in den ersten Lebensjahren weitsichtig. Das schwenkt später über zur Kurzsichtigkeit. Eine leichte Weitsichtigkeit macht wenig Probleme, sie bedeutet auch kein schlechtes Sehen, denn meist kann die Linse das ausgleichen. Kurzsichtigkeit dagegen kann das Auge nicht ausgleichen.

Eltern ermahnen ihre Kinder ja oft, beim Schreiben nicht „mit der Nase“ ans Papier zu gehen. Hat der richtige Abstand beim Lesen und Schreiben zum Papier überhaupt eine Auswirkung darauf, ob man später kurzsichtig wird?

Ja, es gibt einen Effekt bei übermäßiger Naharbeit. Allerdings findet diese Naharbeit hauptsächlich in Innenräumen statt und nicht bei Tageslicht. Wenn man draußen etwas liest, ist das für die Kurzsichtigkeit kein so großes Risiko, dagegen ist es sehr wohl ein Faktor, wenn man drinnen liest.

Die Lesebalken, die man in Asien häufig verwendet, damit der richtige Abstand zum Papier gewährleistet ist, sind allerdings der falsche Ansatz. Besser ist es, in den Schulpausen draußen zu sein und nicht im Gebäude. In Taiwan war man bei Schulkindern sehr hinterher mit der Lichtexposition, denn auch dort gab es eine große Zunahme an Kurzsichtigkeit. Aber in den Jahrgängen, in denen die Kinder in den Pausen nach draußen geschickt wurden, hat die Kurzsichtigkeit tatsächlich um 10 bis 20 Prozent abgenommen.

Lesen unter der Bettdecke hat also keinen Effekt?

Ich würde natürlich keinem Kind verbieten, abends zu lesen, es soll eben tagsüber öfter mal rausgehen. Oder eben lieber draußen auf dem Balkon lesen. Zudem ist es gut, kleine Pausen zu machen, in denen man den Blick immer wieder in die Ferne richtet.

Und das Lesen auf Displays? Hat das Auswirkungen darauf, ob man kurzsichtig wird?

Ob man nun drei Stunden ein Buch liest oder am Computer spielt – das hat für das Auge den gleichen Effekt. Hier gibt es keinen Unterschied.

Zur Person:

Prof. Dr. med. Oliver Ehrt ist Oberarzt an der Augenklinik der Ludwig Maximilians Universität  in München. Diese zählt nicht nur zu den größten, sondern auch zu den renommiertesten Augenkliniken Europas. Prof. Ehrt arbeitet dort in der Kinderaugenheilkunde und Schielbehandlung.

 

Bilder: Gettyimages