Lernstoerung

Dyslexie und Dyskalkulie erkennen – Hat mein Kind eine Lernstörung?

Eltern, Familie, Gesundheit, Schule

Haben Kinder Schwierigkeiten beim Schreiben, Lesen oder Rechnen lernen, kann auch eine Lernstörung dahinter stecken. Wie erkennt man Dyslexie und Dyskalkulie und wo findet man Unterstützung?


Wenn Kinder gravierende Probleme in der Schule haben, könnte der Grund dafür eine ausgeprägte Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche sein. Woran man eine solche Lernstörung erkennt, welche Folgen das für die Schullaufbahn hat und wie man den betroffenen Familien helfen kann, darüber haben wir mit einem Lerntherapeuten des Duden Instituts gesprochen

Lieber Herr Dr. Huck, manche Kinder tun sich beim Lesen-, Schreiben- oder Rechenlernen viel schwerer als andere. Ab wann spricht man von einer Lernschwäche und wie ist diese abzugrenzen von einer Dyslexie oder Dyskalkulie?

Dr. Lorenz Huck: Dyslexie und Dyskalkulie sind die international in der Forschung gebräuchlichen Bezeichnungen für sogenannte Lernstörungen beim Lesen und Schreiben bzw. Rechnen. Damit meint man so stark ausgeprägte Lernschwächen, dass sie bestimmten statistischen Kriterien entsprechen. Wenn die Lernfähigkeiten von Kindern in einzelnen Bereichen deutlich unter denen ihrer Altersgruppe liegen, bezeichnet man das ab einem bestimmten Abweichungsgrad von der Norm als „Lernstörung“. Diese Definition ist jedoch ziemlich willkürlich. Denn die Unterschiede zwischen normalem Lernen, Lernschwächen und Lernstörungen sind graduell, es gibt viele unterschiedliche Ausprägungen und keine Schubladen. 

Lernstoerung bei Kindern
Einfach nur mehr üben reicht nicht aus, wenn eine Lernstörung vorliegt.

Oft sind es fitte, intelligente Kinder, die nur in bestimmten Bereichen enorme Probleme haben. Kennt man die Ursachen für diese Lernstörungen?

Bei der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) kann man zeigen, dass bestimmte Gen-Varianten das Risiko erhöhen, erhebliche Lernschwierigkeiten zu entwickeln. Natürlich spielen aber auch alle möglichen Umweltein-flüsse eine Rolle. Wenn ein Kind etwa aufgrund chronischer Mittelohrentzündung zeitweilig schlecht hört oder ein Sehfehler erst spät erkannt und behandelt wird, kann das die Sprachentwicklung und Schriftsprachentwicklung beeinträchtigen oder dazu führen, dass sich die Raumlage-Wahrnehmung nicht so zeitgerecht entwickelt, wie von der Schule erwartet. Das kann dann etwa die Unterscheidung der Buchstaben b und d erschweren. Als Folge daraus etablieren sich oft negative Kreisläufe, die nach Wegfall der Beeinträchtigung bestehen bleiben, sich durch Frustration und Vermeidung sogar noch verstärken. So gibt es eine ganze Reihe von Ursachen, unter anderem auch die Unterrichtsqualität und die Anregungen, die man zu Hause erfährt oder nicht erfährt. 

Gibt es typische Anzeichen für eine Dyslexie oder Dyskalkulie?

Üblicherweise werden Eltern Leistungsschwierigkeiten feststellen. Ihr Erstklässler braucht etwa viel länger beim Lesenlernen, sammelt sich einzelne Buchstaben zusammen, ohne den Sinn zu erfassen, lässt Buchstaben länger aus und verwechselt ähnliche Laute beim Schreiben länger als andere. Beim Rechnen arbeitet das Kind immer noch mit den Fingern, es zählt, statt zu rechnen. Dazu kommen die oft sehr qualvollen stundenlangen Hausaufgabensitzungen. Kinder, die zu uns kommen, üben nicht weniger als andere, sondern mehr, werden dabei oft von ihren Eltern begleitet. Das nützt aber häufig nichts, weil die Eltern nicht wissen, wo sie ansetzen müssen zur Förderung. Und dann kommt es zu sehr frustrierenden gemeinsamen Erlebnissen zu Hause und zu allen möglichen Verweigerungstendenzen. Trödeln, nicht anfangen wollen, aggressiv werden, sich wegträumen usw. Das erleben Eltern natürlich auch.

Werden Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörungen in Grundschulen verlässlich erkannt? 

Zum Glück ist das Thema mittlerweile in den Grundschulen angekommen. In vielen Bundesländern testen die Schulen selber sehr regelmäßig, sodass kaum noch ein Kind durchs Raster fällt und nicht erkannt wird, dass es Schwierigkeiten hat. 

Lernstoerung
Grundschulen testen in Deutschland regelmäßig auf Lernstörungen.

Wenn die Schule keine Lernstörung erkennt, Eltern aber dennoch besorgt sind: Können sie ihr Kind dann unabhängig testen lassen?

Ja, es gibt standardisierte Leistungstests, die man mit einem IQ-Test verbinden würde. Guter Ansprechpartner sind die Schulpsychologien, auch niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater und -Psychotherapeuten. Wenn man testen lässt, um die Voraussetzung für eine vom Jugendamt finanzierte Lerntheapie zu bekommen, dann ist darauf achten, dass man nicht dort testen lässt, wo man die Therapie durchführen lassen will. Jugendämter empfehlen oft Adressen für Diagnosen – hier sind Eltern gut beraten, sich direkt an diese Fachstelle zu wenden.

Was folgt nach einer Diagnose?

Im Allgemeinen spielen die Schulen erst einmal ihr eigenes Förderrepertoire aus: Förderunterricht, Speziallehrkraft, temporäre Lerngruppe, Nachteilsausgleich. Wenn das Problem hartnäckig ist und zu Beginn der dritten Klasse fortbesteht, sind Eltern auch im Hinblick auf den Übertritt in die weiterführende Schule gut beraten, nach zusätzlichen außerschulischen Fördermöglichkeiten Ausschau zu halten. Im Lesen und Rechtschreiben kann in vielen Bundesländern Notenschutz gewährt werden. Das kann unter anderem dazu führen, dass diese Teilnoten für die Förderprognose keine Rolle spielen und die Gymnasialempfehlung leichter zu erreichen ist.   

Was können Eltern tun, wenn die schulische Förderung unterbleibt?

Zuerst einmal hat jedes Kind mit „besonderen Schwierigkeiten“ beim Lesen, Schreiben und Rechnen von Rechts wegen einen Anspruch auf Förderung in der Schule, auch ohne Diagnose. Das wurde bereits in den 70er-Jahren von der Kultusministerkonferenz beschlossen und ist in allen Landesschulgesetzen festgeschrieben. Deshalb sollte man als Eltern eines betroffenen Kindes bei der Schulleitung durchaus kritisch nachfragen: Muss mein Kind nicht Förder-
unterricht oder Nachteilsausgleich oder sogar Notenschutz erhalten?

Leidet die Schule jedoch unter Personalnot und benötigt alle verfügbaren Lehrkräfte, um die regulären Schulstunden abzudecken, dann entfällt ihre Verpflichtung, Förderunterricht anzubieten. In dieser Situation sollten Eltern eine außerschulische Förderung in Betracht ziehen. Wenn Schulen zwar Personalmittel für Förderlehrkräfte haben, aber keine geeigneten Bewerber dafür finden, können sie zu diesem Zweck mit unserem Institut kooperieren. In Berlin haben wir schon ein paar solcher Kooperationen.

Lernstoerung
Bei Kindern mit Lernstörung müssen erst einmal wichtige Lernvoraussetzungen geschaffen werden, sagt der Fachmann.

Ist Nachhilfeunterricht hier sinnvoll?

Nachhilfe beschäftigt sich mit dem aktuellen Schulstoff. Das ist hilfreich, wenn Kinder etwas verpasst haben oder einfach einen weiteren Ansatz brauchen, um alles gut zu verstehen. Kindern mit LRS oder Rechenstörung reicht das nicht: In der Arbeit mit ihnen müssen erst einmal Lernvoraussetzungen geschaffen werden. Fachlich geht man dazu regelmäßig einige Schuljahre zurück und es muss fast immer auch die emotionale Bereitschaft, sich auf einen Lernprozess einzulassen, erst wieder hergestellt werden. 

Kann die Lernstörung mit einer maßgeschneiderten Therapie behoben werden?

In der Regel kann man bei LRS und Dyskalkulie gut helfen. Das Kind kann grundlegende Kompetenzen aufbauen und Anschluss an den Regelunterricht finden. Wenn man über einen längeren Zeitraum mit dem Kind arbeitet, bei uns im Regelfall zwei Jahre, und Eltern und Schule kooperieren, dann klappt das. Mathe wird dann nicht unbedingt das Lieblingsfach, aber das Kind kann verstehen, was im Unterricht vorkommt. Viele „unserer“ Kinder machen Abitur und studieren. Natürlich gibt es auch Einzelfälle, wo es für den Betreffenden vernünftiger ist, nach Kompensationsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Also lieber Diktierfunktionen, Rechtschreibprogramme und Taschenrechner im Alltag zu nutzen. Aber das Hauptziel der Therapie ist tatsächlich der Aufbau von Kompetenzen.

Wie verläuft die Zusammenarbeit mit den Eltern?

Wir sind ständig im Gespräch mit den Eltern. Außerdem bekommen sie kleine Aufgaben für zu Hause. Diese sind genau auf den Lernentwicklungsstand des Kindes abgestimmt. Zum Beispiel ein Lernspiel, um ähnlich klingende Laute wie b und p unterscheiden zu lernen. Dafür dürfen die vielen anderen Übungen, die es bis dahin gegeben hat, meistens wegfallen. Oft ist es vom Zeitaufwand her für die Familien und Kinder eine Entlastung. 

Wie lange dauert es, bis die Kinder selbst merken, dass sie Fortschritte machen?

Erfreulicherweise stellen sich erste Erfolge schon in den ersten Monaten ein, viel viel früher als der Anschluss an die Unterrichtsthemen, vor allem bei Jüngeren, die mit acht, neun, zehn Jahren zu uns kommen. Und das Aha-Erlebnis – ich kann ja auch was, wenn man mir zeigt, wie es geht – gibt oft den Familien und Kindern den Mut dranzubleiben. Regelmäßig berichten Eltern auch, dass ihr Kind sich auf die Übungen freut, die zu Hause gemacht werden.

Lernstoerung
Die speziellen Lerntrainings bei Dyslexie und Dyskalkulie zeigen schnell Wirkung.

Ist der Beginn einer Lerntherapie zum Beispiel bei Ihnen zeitnah möglich oder muss man lange warten um einen Platz zu bekommen?

Wir haben leider Wartelisten, oft ziemlich lange, und das fast bundesweit. Wenn Familien zeitlich ganz flexibel sind, das Kind zum Beispiel donnerstags immer erst später Unterricht hat und um acht Uhr früh kommen kann, geht es oft schneller.

Viele verzweifelte Eltern versuchen selbst, ihrem Kind die nötige Förderung zu geben und lernen zu Hause sehr viel mit ihm. Halten Sie das für sinnvoll?

Keinesfalls sollten die Eltern als Hilfslehrer oder Hilfstherapeuten agieren, das geht ja schon in der normalen Situation, wenn das Kind erfolgreich lernt, meist nicht gut, weil Eltern und Kind sich emotional zu nahe sind und immer noch andere Sachen mitschwingen, die nichts mit dem Lernproblem zu tun haben. Das Beste, was Eltern tun können ist, zu Hause erst mal den Druck rausnehmen und klar mit der Schule kommunizieren: „Aufgrund der LRS schafft unser Kind das Hausaufgaben-Pensum nicht. Wir arbeiten dreißig Minuten pro Nachmittag mit ihm, aber mehr nicht.“ Die Schule ist ja bei besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen dazu angehalten, darauf Rücksicht zu nehmen und kann auch Nachteilsausgleich gewähren. Zu Hause und in der Schule den Druck rausnehmen, ist das Beste, was man in dieser Situation machen kann.

Wie sieht es mit digitalen Angeboten aus? Da bekommen Kinder ja ein emotionsfreies Feedback und haben durch Gamification mitunter auch Spaß dabei. Können Sie hier etwas empfehlen?

Ein mithilfe von Forschenden konzipiertes und relativ gut evaluiertes Programm wäre „MeisterCody Talasia – Mathe meistern“ und „MeisterCody Namagi – Deutsch meistern“. Programme, die derzeit auf dem Markt sind, können Kindern aber nur sehr eingeschränkt Rückmeldung geben. Das Programm registriert zwar: Das Kind hat was falsch gemacht, ich muss leichtere Aufgaben stellen. Aber erkennt nicht: Das Kind macht es immer falsch, weil …, ich wechsle mal die Strategie und geh das Ganze anders an. Deswegen kann ich solche Apps und Programme nicht uneingeschränkt empfehlen. Einen Versuch ist es Wert, es gibt sicher Kinder, die darauf ansprechen und davon profitieren, aber es gibt keine Erfolgsgarantie. 

Lernschwaeche
Wichtig ist, mögliche Benachteiligungen der Kinder aufgrund einer Lernstörung von Anfang an zu verhindern, sagt der Fachmann.

Ganz zuletzt: Was sagen Sie zum kürzlich erfolgten Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach Legasthenie bzw. LRS als eine Behinderung anzusehen ist?

Ich fürchte, dadurch wird eher das Missverständnis befördert, dass erhebliche Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben nicht behandelbar seien. Die große Mehrzahl der Betroffenen kann aber bei entsprechender Förderung Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen erheblich weiterentwickeln und entsprechend an Selbstbewusstsein gewinnen, sodass die Teilhabe am Leben für sie nicht mehr ernsthaft eingeschränkt ist. Und obwohl die Legasthenie nun verfassungsrechtlich als Behinderung gilt, ändert sich ihre sozialrechtliche Beurteilung nicht. Es wird also nicht erleichtert, Gesundheitsleistungen zur Behandlung oder Kompensation einer Legasthenie in Anspruch zu nehmen. Dafür müssen künftig im Abschlusszeugnis alle behinderungsbedingten Erleichterungen vermerkt werden, um „Transparenz über die tatsächlich erbrachten Leistungen“ herzustellen – eine mögliche Benachteiligung der Betroffenen aufgrund dieser Offenlegung wird dabei billigend in Kauf genommen. Sie sehen schon: Ich glaube, dass das Urteil „unseren“ Kindern und Jugendlichen eher schaden wird. Entsprechend müssen wir noch mehr Mühe darauf verwenden, sie in fachlicher und psychischer Hinsicht zu stärken.

So werden Dyslexie und Dyskalkulie definiert:

Eine sehr stark ausgeprägte Schwäche beim Erlenen des Lesens und Rechtschreibens wird als Dyslexie oder auch Legasthenie bzw. LRS (Lese-Rechtschreib-Störung) bezeichnet. Bei einer sehr stark ausgeprägten Rechenschwäche spricht man von einer Dyskalkulie. 

Der durch die Lernstörung bedingte schulische Misserfolg kann auch gravierende Auswirkungen auf die Psyche und das Sozialverhalten der Kinder haben. Früh erkannt und gezielt therapiert, kann den Betroffenen in der Regel aber gut geholfen werden. 

Viele Informationen und wertvolle Tipps zum Thema Lernstörungen gibt der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie: bvl-legasthenie.de

Infos zur Lerntherapie:

Lerntherapien erfolgen üblicherweise in wöchentlichen Einzelsitzungen über circa zwei Jahre. Die Kosten dafür müssen die Eltern in der Regel selbst tragen. Unter bestimmten Bedingungen ist aber auch die Kostenübernahme durch das Jugendamt möglich.

Die Duden Institute helfen Kindern und Jugendlichen mit einer Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung in Deutsch und Englisch bundesweit. Mehr Infos unter: duden-institute.de

Weitere Therapieangebote lassen sich über den Fachverband für integrative Lerntherapie finden:
lerntherapie-fil.de

Bildquelle: Getty