Doch wie kann es in der heutigen Zeit gelingen, Kindern die Freude am Lernen zu vermitteln und sie gleichzeitig zu stärken für die Herausforderungen, die auf sie zukommen? Die Psychologin Verena Friederike Hasel widmet sich in ihrem neuen Buch Das krisenfeste Kind – Lernen für die Welt von morgen eben diesen Fragen und lässt uns an ihren Erkenntnissen teilhaben.
Frau Hasel, für Ihr aktuelles Buch haben Sie sich intensiv mit Schulen und Unterrichtsformen in Finnland beschäftigt. Was hat Sie am finnischen Schulsystem am meisten beeindruckt?
Verena Friederike Hasel: Ich war zum einen sehr angetan davon, mit welcher Leichtigkeit verschiedene Fächer miteinander verzahnt und verschränkt werden. Man nimmt im naturwissenschaftlichen Unterricht zum Beispiel Planeten durch und malt im Kunstunterricht wunderbare Weltraumbilder. Genau diesen interdisziplinären Zugang zum Lernen brauchen wir im 21. Jahrhundert. Die Probleme unserer Zeit müssen auf so vielen Ebenen zugleich angegangen werden, dass unseren Kindern das am besten schon früh vermittelt wird.
Zum anderen hat es mir als Psychologin sehr gut gefallen, dass sozio-emotionales Lernen so ernst genommen wird – und mit großer Selbstverständlichkeit Teil des Curriculums ist. Das ist wirklich ganz wichtig. Sozioemotionale Fähigkeiten sind das Fundament, auf dem das weitere Lernen stattfindet. In der heutigen Zeit noch einmal mehr als früher: Wir genießen so viel Freiheit, umso wichtiger ist es, dass wir lernen, mit dieser Freiheit umzugehen, aus etlichen Optionen auszuwählen, uns nicht zu verzetteln und Dinge auch bis zum Ende zu verfolgen.
Und der dritte Punkt: Es hat mich beeindruckt, wie die Finnen sehr mühelos scheinbar unvereinbare Dinge zusammenführen. Die Kinder lernen Zahlen am Rechenschieber begreifen – und machen dann aber auch sehr früh Powerpointpräsentationen an ihren Laptops. Es gibt dort wenig Entweder-oder-Denken – und dafür viel Sowohl-als-auch.
Der Satz „Finnland liebt seine Lehrer und Lehrerinnen“ ist bei mir sofort hängen geblieben. Ist das ein wesentlicher Punkt: dass der Lehrerberuf eine ganz andere Wertschätzung erfährt?
Definitiv. Man schätzt Lehrer und Lehrerinnen in Finnland sehr, auf einen Studienplatz gibt es um die acht Bewerber. Wer ihn dann ergattert, kann sehr stolz sein. Der Respekt für diesen Beruf sagt einiges aus über die finnische Gesellschaft. Und dass es diesen Respekt bei uns nicht gibt, wirft kein gutes Licht auf uns. Wie kann es sein, dass wir einen Beruf nicht feiern, der so eine immense Bedeutung im Leben von Kindern hat? Man muss sich nur mal klarmachen: Kinder verbringen bis zu 12.000 Stunden ihres Lebens in der Schule, die Beziehungen, die sie zu ihren Lehrerinnen und Lehrern haben, sind ganz zentral für ihren schulischen Werdegang. Warum blicken wir mit so einer Verachtung auf Lehrer?
Nicht nur in Berlin, sondern flächendeckend fehlen Lehrer. Was denken Sie, woher rührt dieser Rückgang?
Wir haben einen Beruf, der eigentlich ein Traumberuf ist, kaputtgemacht. Wir haben ihn überfrachtet, entwertet und ausgehöhlt. Lehrerinnen und Lehrer müssen so viele Verwaltungsaufgaben erledigen, so viel dokumentieren, dass sie sich kaum auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können. Wir haben so oft davon gesprochen, dass Lehrer nur Lernbegleiter sind, dass manche glauben, diese Menschen seien gar nicht so wichtig. Das Gegenteil ist der Fall.
An Schulen können Kinder gerettet werden oder aber schon früh verloren gehen. Da entscheiden sich teilweise Schicksale. Nur kann ein Lehrer oder eine Lehrerin ein Kind nicht alleine retten – und das haben wir immer noch nicht verstanden. Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen. Eine Schule muss genau so ein Dorf sein. Lehrer brauchen andere Menschen an ihrer Seite, Psychologen, Sozialarbeiterinnen – und erst wenn wir dafür sorgen, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht so allein sind, wird dieser Beruf wieder mehr Menschen anziehen.
Dabei kann Lernen doch etwas sehr Beglückendes sein und großen Spaß machen, und zwar Schülerinnen und Schülern und Lehrern gleichermaßen. Haben wir den Spaß am Lernen verlernt?
Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir in unserer Gesellschaft selbst nicht ganz daran glauben, dass Lernen Spaß machen kann. Man muss nur einmal vor Augen halten, was Kinder zu hören kriegen, wenn sie in die Schule kommen: „Nun fängt der Ernst des Lebens an.“ Wir machen einen merkwürdigen Gegensatz zwischen Spielen und Lernen auf – und stehen uns damit selbst im Weg. Je mehr spielerische Elemente das Lernen hat, je mehr man sich traut, herumzuprobieren und zu experimentieren, desto größer ist die intrinsische Motivation, desto mehr lernt man.
Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir etwas Neues gelernt oder verstanden haben? Warum macht Lernen tatsächlich glücklich?
Es wird Dopamin ausgeschüttet, das so genannte Glückshormon. Und Dopamin macht nicht nur für den Moment glücklich, sondern weckt auch das starke Verlangen nach mehr. Mit anderen Worten: Wer einmal erlebt hat, wie toll Lernen ist, wird immer wieder lernen wollen.
Wie bringt man Kinder dazu, sich ins Lernen zu verlieben?
Ich glaube, man muss Kindern erst einmal klarmachen, was Lernen ist. Viele setzen es ja mit Pauken gleich – dass man Vokabeln und Formeln stur auswendig lernt. In Finnland lernen schon die Kleinen ganz früh, dass Lernen viel mehr als das ist, dass Lernen vor allem eine bestimmte Haltung braucht. Deshalb spricht man viel über die Eigenschaften eines Lerners oder einer Lernerin. Dass man zum Beispiel Risikofreude braucht, kritisches Denken, Kommunikationsfähigkeit und so weiter.
Brauchen wir das klassische Noten- und Bewertungssystem noch? Das schürt ja eher Leistungsdruck, als dass es positive Resultate bringt …
Ich sehe zwei große Probleme bei Noten. Das erste: Zensuren, wie wir sie haben, orientieren sich an einer äußeren Norm und sie bringen Kinder in eine Rangfolge, so als seien sie Pferde auf einer Rennbahn, die gegeneinander antreten. Dabei geht es doch nicht darum, dass wir andere übertreffen, sondern dass wir uns selbst übertreffen, dass wir also jeden Tag ein bisschen besser sind als am Vortag. Und das bilden Noten überhaupt nicht ab.
Das zweite Problem: Was wir brauchen, ist intrinsische Motivation. Und die wird Kindern durch Noten eher genommen. Es gibt da ein sehr beeindruckendes Experiment: Sobald man Kindern, die eigentlich sehr gern malten, eine Belohnung für ein Bild versprach, malten sie anschließend deutlich weniger. So als habe ihre intrinsische Motivation durch die Tatsache, dass man sie zum Malen verführen wollte, einen Abbruch erleidet. So als glaubten sie nun, dass Malen nichts sei, was man gern und freiwillig tut.
Was ist hilfreich, um unsere Kinder gerade im Hinblick auf neue Technologien wie Künstliche Intelligenz, ChatGPT oder den allgegenwärtigen Umgang mit sozialen Medien zu unterstützen, ohne sie zu überfordern? Helfen zeitliche Begrenzungen für die tägliche Zeit an Handy und Laptop?
Wir müssen ihnen dabei helfen, neue Technologien nicht einfach zu konsumieren, sondern mit ihnen etwas zu produzieren. Dazu müssen wir uns aber selbst ein bisschen damit beschäftigen.
Als ich neulich einen Vortrag vor Lehrern hielt, sagte mehr als die Hälfte, sie hätten ChatGPT noch gar nicht ausprobiert. Das geht nicht. Und man kann das alles ja auch kreativ und sinnvoll nutzen, zum Beispiel indem man mithilfe von Programmen wie ChatGPT fiktive Interviews mit berühmten historischen Persönlichkeiten führt. Zugleich muss es ganz dringend auch technikfreie Zeit für Kinder geben, aber auch für uns Erwachsene. Ich wundere mich immer, wenn Eltern sich beschweren, dass ihre Kinder ständig am Handy sind – und es selbst alle fünf Minuten ansehen. Wir sollten unsere Telefone alle ab und zu weglegen und mit den Kindern in den Wald gehen und Pilze sammeln oder uns aufs Sofa setzen und zusammen Gedichte lesen.
Was würden Sie persönlich sich für unsere Schulen am meisten wünschen?
Eigentlich nur das eine: dass wir Kindern einen Grund geben zu lernen. Ich habe dafür an einer Schule ein wunderbares Beispiel gesehen. Eines Tages war da im Klassenzimmer einer zweiten Klasse eine kleine Tür an der Wand und vor ihr lag ein miniaturgroßer Brief, mit Glitzer bestreut. Die Verfasserin war offenbar, so stand es in diesem Brief, eine kleine Fee, die hinter dieser Tür wohnte und die Kinder fragte, ob sie ihre Klassenfee sein dürfe. Das fanden die Kinder so fantastisch, dass alle ihr gleich zurückschrieben, auch diejenigen, die eigentlich nicht gern schreiben. So entstand eine rege Brieffreundschaft zwischen der Fee und den Kindern, an der sich alle beteiligten. Weil es eben so toll ist, eine Fee zur Brieffreundin zu haben, man damit den besten aller Gründe hat, um zu schreiben.
Diese Fee hat die Kinder aber nicht nur zum Schreiben gebracht, sie hat auch sonst ganz wichtige Funktionen übernommen. Sie hat für emotionales Wohlbefinden gesorgt, und sie hat Magie ins Klassenzimmer und ins Leben der Kinder gebracht. So eine Klassenfee, solche Ideen, die wünsche ich mir an vielen deutschen Schulen.
Das Buch von Verena Friederike Hasel ist bei Kein und Aber erschienen (ca. 18 Euro). Auch Ihr Buch “Der tanzende Direktor” dreht sich um das Thema Schule. In ihm beschreibt die Autorin das Bildungssystem in Neuseeland, wo sie mit ihrer Familie einige Zeit gelebt hat. Dort begrüßt der Direktor einer Schule morgens jeden Schüler persönlich. Empathie und Kreativität sind hier genauso wichtig, wie das Erlernen von Mathematik und Sprachen. “Was ich gefunden habe ist ein Schulsystem, in dem die Zukunft schon begonnen hat (…)”, schreibt Hasel (Kein und Aber, 22 Euro).
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