Liebe Frau Uehlein, seit der Corona-Pandemie lesen die Deutschen wieder mehr. Erlebt das Lesen gerade eine Renaissance?
Sabine Uehlein: Bücher lesen ist toll, und dass die Deutschen wieder mehr lesen, ist eine erfreuliche Nachricht. Für uns steht allerdings eine andere Entwicklung stärker im Fokus: die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen. Hier sind wir leider derzeit an einem neuen Tiefpunkt angekommen. Und das hat nachhaltig Auswirkungen auf uns alle. Denn Lesen ist nicht nur ein schönes Hobby. Lesen ist eine wichtige Alltagsfertigkeit, die in Deutschland 6,2 Millionen Menschen nicht ausreichend gut beherrschen – und da müssen wir ran.

Es sind also eher Erwachsene, die zum gedruckten Buch greifen. Was können Eltern tun, um die Freude am Lesen schon vor der Einschulung zu fördern?
Das Zauberwort hier heißt: Vorlesen! Auch schon ganz kleine Kinder genießen die Zeit mit ihren Eltern oder erwachsenen Bezugspersonen und lernen beim Vorlesen viele wichtige Grundfähigkeiten für ihr eigenes Lesenlernen. Feste Rituale und Vorlesezeiten verankern das Lesen als selbstverständlichen Teil des Alltags. Dabei sollte im Vordergrund stehen, was gefällt: Es gibt ganz viele sehr schön gestaltete Kinderbücher für jeden Geschmack, aber auch Comics, Zeitschriften oder digitale Apps können genutzt werden, um das Interesse zu wecken.

Wird denn noch vorgelesen? Oder machen Eltern eher ein Hörbuch an… Vielen fehlt einfach die Zeit.
Tatsächlich gibt es viele Gründe, warum Eltern nicht vorlesen. Alltagsstress steht auf der Liste natürlich ganz oben. Doch viele Eltern sind auch der Überzeugung, ihre Kinder wären nicht am Vorlesen interessiert. Weil sie zum Beispiel nicht stillsitzen oder das Tablet eine viel größere Faszination ausübt. Wichtig ist, die verschiedenen Medien nicht gegeneinander auszuspielen und nicht zu hohe Erwartungen an sich selbst zu stellen: Um seinem Kind vorzulesen, muss man kein Profi-Schauspieler mit Stimmtraining sein. Wenn Kinder mal weiterblättern, Rückfragen stellen oder die Geschichte eigenständig weiterspinnen, signalisiert das nicht etwa Desinteresse, sondern den Wunsch, über das Gelesene in einen Austausch zukommen. Und das können nur Vorleserinnen und Vorleser leisten.
Mit der Einschulung beginnt das Lesenlernen. Wie motiviere ich mein Kind?
Grundsätzlich gilt: Übung macht den Meister oder die Meisterin. Aus den Befragungsergebnissen des Vorlesemonitors wissen wir, dass viele Eltern aufhören, vorzulesen, wenn die Kinder in die Schule kommen. Vermeintlich können sie es nun selbst und brauchen die gemeinsame Vorlesezeit nicht mehr. Aber in der Schule beginnen Kinder natürlich mit einfachen Geschichten. Das kann im ersten Moment für Frust sorgen, weil Kinder spannende Geschichten gewohnt sind, die sie sich als Leseanfänger aber noch nicht erschließen können. Kinder brauchen dann Unterstützung auch im Sinne von Motivation. Es lohnt sich, dranzubleiben und aus dem Vorlesen zum Beispiel ein Rollenspiel zu machen, abwechselnd Passagen vorzulesen und bei der Auswahl des Lesestoffs die Kinder mitentscheiden zu lassen.
Was lesen Kinder im Grundschulalter gerne? Gibt es einen Trend bei Kinderbüchern?
Schon seit einiger Zeit sind Comic-Romane hoch im Kurs. Gregs Tagebuch ist da bei Weitem nicht mehr alleine. Auf dem Markt gibt es ganz viele Bücher mit wirklich tollen Illustrationen, gerne auch farbig und mit dynamisch gesetztem Text. Inhaltlich nehmen viele Medienhelden Einzug in die Geschichten: z. B. Lego-Charaktere wie Ninjago, Superhelden à la Marvel oder auch Pokémon. Aber auch Magie und Fantasy-Geschichten sind nach wie vor hoch im Kurs, wie z. B. der Erfolg der Schule der magischen Tiere oder Drachenmeister-Reihen seit Jahren zeigt. Und ganz allgemein sind Schul- und Freundschaftsgeschichten ein Evergreen, weil sich Kinder in diesem Lebensabschnitt sehr gut damit identifizieren können.

Umfragen zeigen immer wieder, dass Jungen weniger gern Bücher lesen als Mädchen. Woran liegt das?
Das ist eine gute Frage und hier gibt es keine eindeutige Antwort. Ein Faktor kann sicherlich sein, dass Lesen von Anfang an in der Regel mit weiblichen Vorbildern besetzt ist. Zu Hause lesen häufiger Frauen vor, in Kita und Schule wird Lesen auch mit weiblichen Bezugspersonen verbunden. Das ist also ein klarer Aufruf an alle Männer da draußen, sich für das Vorlesen einzusetzen – zu Hause oder als freiwillig Engagierter.

Aus verschiedenen Lesestudien wissen wir aber auch, dass Jungs nicht nur seltener und kürzer lesen, sondern auch andere Themen und Genres bevorzugen. Naturwissenschaftliche Themen, Sachbücher und Comics etwa werden am häufigsten als bevorzugte Lektüre genannt. Da kann man aber ansetzen und diese Vorlieben bei der Medienauswahl berücksichtigen. Auch Verfilmungen von Büchern sind ein guter Aufhänger, um Geschichten in den Fokus zu rücken und zum Lesen zu animieren. Einen großen Fehler, den man nicht machen sollte, ist, das Lesen an andere Aktivitäten zu knüpfen, so nach dem Motto: Du darfst erst Fernsehen, wenn du eine halbe Stunde gelesen hast. Das weckt sicherlich keine große Lust aufs Lesen.
Warum kommt es in der Pubertät oftmals zu einem Leseknick?
In der Pubertät widmen sich viele Jugendliche anderen Interessen, probieren sich aus, wollen mit Freundinnen und Freunden zusammen sein und entwickeln eine eigene Identität. Die Abkehr vom Lesen muss gar nicht von Dauer sein, sondern ist vielleicht nur eine Phase. Manche liebgewonnenen Familienrituale schlafen ein oder ruhen vielleicht auch nur ein paar Jahre. Können die Jugendlichen lesen, ist das auch gar nicht schlimm. Es geht nicht darum, dass alle Jugendlichen zu Dauerlesern werden. Sie müssen aber im Bestfall vor dem Leseknick mit einer ausreichend guten Lesekompetenz ausgestattet sein. Deswegen lohnt es sich trotzdem, Leseangebote zu machen. Denn wir wissen: Bei Eltern, denen als Kinder vorgelesen wurde, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie diese positiven Erlebnisse später auch an ihre eigenen Kinder weitergeben.

Haben Sie den Eindruck, dass die Lesevermittlung in den Schulen noch zeitgemäß ist? Auf vielen Lehrplänen finden sich seit Jahrzehnten die gleichen Bücher…
Die Vielfalt, die es im Kinder- und Jugendbuch gibt, genauso aber bei Zeitschriften, Comic, Manga und auch digitalen Leseangeboten, bildet sich noch nicht in der Fläche im Leseunterricht der Schulen ab, vor allem in den Klassen, wo es ums Lesenlernen geht. Sie ist aber eine große Chance, mehr Kinder fürs Lesen zu begeistern. Besonders erfolgreich sind dabei Texte auf unterschiedlichen Leseniveaus, aktuelle Kinderzeitschriften oder bildstarke Geschichten für Kinder, die sich mit dem Lesen noch schwertun. Damit Lehrkräfte diese Vielfalt nutzen können, brauchen sie Unterstützung: bei der Auswahl genauso wie bei der Bereitstellung. Wir bieten zum Beispiel für Grundschulen Lese-Boxen mit unterschiedlichen Lesematerialien und Einbindungstipps für Lehrkräfte an. Die können z. B. Einzelpersonen, Unternehmen, Elternbeiräte oder Schulfördervereine über unsere Seite erwerben und der Schule spenden. Natürlich kann aber auch die örtliche Bibliothek eine gute Anlaufstelle sein, mit der zusammen Leih-Bücherboxen mit aktuellen Medien zusammenstellt werden könnten. Auch die Medientipps der Stiftung Lesen sind dabei eine wertvolle Orientierungshilfe.

Welche Rolle spielen Eltern als Vorbild beim Lesen?
Eine große. In Deutschland ist der Bildungserwerb noch immer viel zu stark an die Voraussetzungen im Elternhaus gekoppelt. Kinder, denen nicht oder nur selten vorgelesen wurde, tun sich selber mit dem Lesenlernen deutlich schwerer und haben schlechtere Noten in allen Schulfächern. Aus den Ergebnissen des Vorlesemonitors wissen wir, dass jedes dritte Kind nicht oder nur selten vorgelesen bekommt. Einer der größten Faktoren ist dabei, ob man selbst Vorleseerfahrung als Kind gesammelt hat oder nicht. Generell wissen wir, dass Kinder sich das zum Vorbild nehmen, was sie sehen. Deswegen kann zum Beispiel auch gemeinsame Familienlesezeit dabei helfen, Lesen als alltägliche Tätigkeit zu verankern.
Wird Lesen – wie überhaupt Bildung – mehr und mehr zum Privileg für besser gebildete und besser verdienende Menschen, und der Rest wird abgehängt?
Da fällt es mir schwer, eine Vorhersage zu treffen. Die Daten, die wir im Rahmen des Vorlesemonitors erheben, zeigen, dass gerade in den Familien, in denen sich die Eltern selbst mit dem Lesen schwertun, vergleichsweise wenig vorgelesen wird. Gleichzeitig gibt es in einem Drittel der Familien weniger als zehn Kinderbücher. Und wo kein Material vorhanden ist, wird auch nicht vorgelesen. In vielen Kitas und Grundschulen gibt es dann Bibliotheken und Lesematerial – aber für einen geübten und selbstverständlichen Umgang damit ist es dann unter Umständen schon zu spät. Bei der Stiftung Lesen haben wir es uns zum Ziel gesetzt, den Zugang zu Lesematerial zu vereinfachen. Darum arbeiten wir mit vielen Partnern zusammen, die mit ganz unterschiedlichen Menschen Kontakt haben. Verlage, Buchhandlungen, Kitas und Schulen natürlich, aber auch Discounter, Kinderarztpraxen oder Lebensmittelketten gehören dazu. Und wir versuchen, die Entscheidungstragenden aus Politik und Gesellschaft für die Wichtigkeit der Leseförderung zu sensibilisieren.

Wie haben sich die Lesegewohnheiten von Kindern und Jugendlichen verändert? Liest die junge Generation noch Bücher oder nur am Handy oder Tablet?
Die aktuelle JIM-Studie, eine Befragung von Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren, zeigt, dass das Lesen in Büchern in den Kinderzimmern bei Jugendlichen im Vergleich zu anderen Medienaktivitäten leicht rückläufig, aber grundsätzlich recht stabil ist. Dabei verbringen Jugendliche natürlich täglich viel Zeit online, vor allem mit Messengerdiensten und Social Media. Aber auch hier wird nichtsdestotrotz gelesen. Potenzial zeigt uns hier der Vorlesemonitor 2024. Denn Eltern können auch digitale Medien zum Vorlesen nutzen. So lernen Kinder frühzeitig, dass das Smartphone nicht nur für Videos oder Spiele genutzt werden kann, sondern hier auch Geschichten zu finden sind.
Gibt es eine Empfehlung, wie viel oder wie lange am Tag ein Kind lesen sollte?
Studien zeigen, dass regelmäßiges Lesen neuronale Verbindungen stärkt und neue Verbindungen entstehen lässt. Sprich: Es gibt nicht die ideale Länge, aber wir raten dazu, sich lieber zehn Minuten am Tag Zeit zu nehmen, als nur einmal die Woche und dafür länger. Wir wissen, dass Lesen gut für das Gehirn und die emotionale Gesundheit ist. Es fördert die Kreativität, ist gut für die Konzentrationsfähigkeit und erweitert den Horizont. Regelmäßiges Lesen trägt auch dazu bei, dass sich Kinder wohler fühlen und mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln.

Die drei Fragezeichen.
Was waren Ihre persönlichen Lieblingsbücher in Ihrer Kindheit und Jugend?
Ich bekenne: Ich war absolut seriensüchtig! Fünf Freunde, Hanni und Nanni, Die drei ???. Das funktioniert bis heute bei Kindern: starke Charaktere, die immer wieder gemeinsam neue Abenteuer erleben, in immer neuen Folgen und Bänden. Mag uns Erwachsenen vielleicht manchmal suspekt erscheinen. Mir ist diese Lust am seriellen Erzählen geblieben, auch wenn ich sie inzwischen auch oft auf Netflix und Co auslebe.

Sabine Uehlein ist Geschäftsführerin Programme der Stiftung Lesen in Mainz. Sie ist verantwortlich für die inhaltlichen Angebote für unterschiedlichste Zielgruppen. An den Universitäten Erlangen und Mainz studierte sie Deutsche Philologie, Publizistik und Buchwissenschaft. Die Leseförderung bei Kindern, Jugendlichen und benachteiligten Zielgruppen ist ein Schwerpunkt ihrer Arbeit. Weitere Infos unter stiftunglesen.de
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