Wie bringt man Kinder zum Reden?
Christine Weiner: Das klingt jetzt völlig unspektakulär, aber ich glaube, es funktioniert, indem man Kindern die volle Aufmerksamkeit schenkt. Viele Erwachsene, und damit meine ich nicht nur die Eltern, sprechen zwar mit dem Kind, aber sind gar nicht wirklich dabei. Und Kinder merken das. Kinder haben – wie wir alle – feine Sensoren dafür, ob sich jemand wirklich für sie interessiert oder nicht.
Gerade nach der Schule oder dem Kindergarten will man doch wissen: Wie war es heute?
Ja, aber dabei ist wichtig, nicht einfach draufloszureden, sondern abzuwarten und mit dem Kind zu besprechen, ob es Zeit hat oder ob es gerade mit etwas anderem beschäftigt ist. Wir würden ja auch nicht einfach auf einen Erwachsenen zugehen und anfangen zu reden, sondern vorab fragen, ob er oder sie zu einem Gespräch bereit ist. Wenn das passiert, dann ist die Chance auch relativ hoch, eine Antwort zu bekommen. Ich glaube, die meisten Abfuhren, die Eltern sich holen, haben damit zu tun, dass ihre Frage zum verkehrten Zeitpunkt kommt oder es beiden Seiten an Konzentration fehlt.
Woran kann es noch liegen, wenn Kinder nicht reden wollen?
Ich beobachte, dass viele Erwachsene und Eltern das Gespräch mit Kindern vor allem dann suchen, wenn sie etwas klären wollen. Also wenn etwas „so nicht geht“ oder „anders zu gehen hat“. Die Sätze beginnen dann auch oft mit „Wir sollten mal“ oder „Wir müssten“. In jedem Fall wird dem Kind schnell klar, dass damit keine positive Nachricht verbunden ist. Es kommt in meiner Praxis leider ganz selten vor, dass Erwachsene auf ein Kind zugehen und sagen: „Du, ich will mal mit dir reden, weil ich dir schon die ganze Woche sagen wollte, wie süß ich dich finde.“
Wenn Kinder mitbekämen, dass eine Rückmeldung auch positiv sein kann, dann würden sie auf Gespräche allgemein nicht so ablehnend reagieren. Warum aber sollen sie sich freudig darauf einlassen, wenn es dabei mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit um ein Maßregeln, ein Verbot, eine Zurechtweisung geht? Natürlich hört man da weg, schaltet ab oder reagiert grummelig.
Manchmal wollen Kinder über Sachen nicht sprechen, zum Beispiel wenn die typischen Elternfragen über die Schule kommen. Sollen Eltern das akzeptieren oder versuchen, die Kinder umzustimmen?
Umstimmen wird nicht so einfach gehen. Und ich finde es auch wichtig, Kindern den Freiraum zu geben, Situationen in der Schule erst einmal mit sich selbst auszumachen. Denn daran wachsen sie. Aber wir haben natürlich auch die Verpflichtung, unseren Kindern beizubringen, wie das Zusammenleben funktioniert. Und es gibt immer wieder Situationen in Beziehungen, wo man über bestimmte Dinge nicht reden möchte, aber das Gegenüber – später ist es vielleicht der Partner, der Kollege oder der Vorgesetzte – zu Recht sagt: Ich muss das aber wissen, ich möchte es wissen, weil auch ich davon betroffen bin. Statt als Eltern zu bohren und nachzufragen, ist es besser, seinem Kind zu erklären, warum man es wissen will. Also: Geht es bei Fragen nach der Schule und den Noten um Kontrolle oder nur darum, gefragt zu haben? Oder will man es wissen, um an einer Entwicklung teilzuhaben?
Das heißt, Eltern sollten nicht einfach aus Gewohnheit „Wie war’s in der Schule?“ fragen.
Genau. Bevor ich einem Kind eine Frage stelle, sollte ich mich als Erwachsener erst einmal selber fragen: Warum will ich das wissen? Was ist meine Motivation? Wenn ich nur möchte, dass ein Kind abnickt und sagt, es sei alles okay, damit ich mich möglichst nicht damit beschäftigen muss, dann kann ich mir die Frage auch sparen. Wenn es aber so ist, dass ich mein Kind wachsen sehen möchte, auch in seinen Entscheidungsspielräumen, dann kann ich ihm klarmachen, warum es mich interessiert. Ich kann mit ihm zusammen herausfinden, wie wir das am besten lösen: Ich will gern wissen, wie es dir geht. Ich verstehe, wenn dir das unangenehm ist und du meine Fragen nicht beantworten möchtest, sondern bestimmte Dinge für dich behalten willst, weil du „groß“ werden willst. Was können wir da machen? Können wir es vielleicht so lösen, dass ich dich nur zwei- oder dreimal die Woche anspreche und du mir dann etwas erzählst? Oder dass du vielleicht auch einmal von dir aus erzählst, weil du weißt, dass es mir wichtig ist?
Um so eine „kleine“ Situation wirkungsvoll zu verändern, braucht es vielleicht sogar mehrere Gespräche mit dem Kind. Sie erfahren eine ganze Menge von den Kindern, wenn Sie so ins Gespräch gehen, und bekommen viel wertvollere Informationen als nur die, ob die Hausaufgaben gemacht sind oder nicht.
In Ihrem Buch widmen Sie ein ganzes Kapitel den negativen Glaubenssätzen. Wie kann man diese bei Kindern umpolen?
Wenn ein Kind in der Schule keine guten Noten hat, ist es nicht hilfreich, ihm einzureden, es sei ein Bombenschüler. Wenn ein Kind sich unsicher fühlt, ist es auch wenig sinnvoll, es vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Der Kniff für Situationen, wo ein Kind eine Annahme über sich selbst hat,
die nicht förderlich, nicht unterstützend, nicht wohlwollend ist, besteht darin, einen Anknüpfungspunkt zu finden, also: Wo hast du dich schon einmal sicher gefühlt? In welchem Fach in der Schule bist du gut?
Wenn ein Kind sagt: „Keiner spielt mit mir!“ und Sie dazu fünf Ausnahmen finden, dann stimmt der Satz nicht mehr. Dann lautet der Satz, den das Kind eigentlich sagen will: „Ich möchte, dass noch mehr Kinder mit mir spielen“, und den können Sie positiv aufnehmen, indem Sie fragen: Okay, wie könntest du das schaffen?
Können Sie uns drei Grundregeln nennen für Gespräche mit Kindern?
Präsenz, Respekt und eine wohlwollende Betrachtung der Situation. Letzteres bedeutet etwa, anzuerkennen, dass jeder Mensch in der Situation, in der er ist, schon das Beste gibt. Eine wohlwollende Betrachtungsweise meint auch, nicht das Kind zu maßregeln, wenn es vielleicht gerade trotzig ist und mit Sachen um sich wirft. Vielmehr sollte man erkennen, dass dem Kind in der Gefühlssituation, in der es gerade steckt, keine andere Möglichkeit bleibt, als so zu reagieren. Anstatt also zu sagen: Mein Kind ist trotzig und ungezogen, sollte man sich fragen: Wie kann ich meinem Kind zu einem größeren Handlungsrepertoire verhelfen, um solchen Situationen anders zu begegnen?
Christine Weiner lehrt Kindercoaching und leitet Mentoring-Projekte an der Hochschule Mannheim. Daneben berät die erfahrene Pädagogin auch Eltern im Umgang mit ihren Kindern und begleitet als versierter Persönlichkeits- und Erfolgscoach viele Menschen bei ihrer Karriere und der Suche nach Erfüllung. Sie ist Autorin mehrerer Bücher. Zuletzt erschien von ihr „Erzähl doch mal von dir!“ (Ariston Verlag 2017, 16,99 Euro)
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