Darum lieben Kinder Märchen!

 

Manche Dinge bleiben mit Kindern stets nahezu gleich. Egal, ob sie vor 100 Jahren aufgewachsen sind oder heute. Sobald wir uns in Ruhe mit ihnen zusammensetzen, ein Buch hervorholen und ein Märchen vorlesen, wird es mucksmäuschenstill und sie tauchen ab in die fremde Welt, von der wir erzählen.

Text: Stefanie Rüggeberg

Wenn Hänsel und Gretel im dunklen Wald das Pfefferkuchenhaus entdecken und die garstige Hexe austricksen. Wenn der Königstochter der Geduldsfaden reißt, weil der vorlaute Frosch nicht nur von ihrem Tellerchen essen, sondern darüber hinaus neben ihr im Bett schlafen will. Oder wenn Schneewittchen bei den sieben Zwergen Mal um Mal ihrer bösen Stiefmutter entkommt und am Ende mit dem Prinzen Hochzeit feiert. Nicht zu vergessen die sieben Geißlein, die bis auf eines vom Wolf gefressen werden und sich dann wie durch ein Wunder doch wieder alle in die Arme schließen können.

Märchen sind auch heute noch modern

Dabei sind diese bekannten Volksmärchen aus der Sammlung der Brüder Grimm oder die ebenfalls beliebten Autorenmärchen wie etwa „Das hässliche Entlein“ von Hans Christian Andersen nur die Spitze eines riesigen, in allen Ländern der Welt verborgenen Schatzes. Das Tolle an Märchen ist zum einen, dass sie ein zeitloses Kulturgut sind. „Gerade die Volksmärchen bleiben immer zeitgemäß, weil sie oft seit Jahrhunderten weitererzählt werden und die Lebenserfahrung vieler Generationen umfassen“, sagt Sabine Lutkat, Prä­si­dentin der Europäischen Märchengesellschaft.

Zum anderen schüren Märchen für Kinder ein Päckchen aus Spannung, Unterhaltung und Kulturgeschichte – und sind außerdem  für die gesamte Entwicklung von Kindern ein Jackpot.

Doch wie genau beflügelt es Kinder, wenn ihnen schon von klein auf Märchen erzählt werden? Und wie machen Eltern hier von der Auswahl der Geschichten bis zur Erzählsituation möglichst alles richtig? Mit unseren Tipps sind Sie auf alle kommenden kleinen und großen Reisen in magische Fantasiewelten vorbereitet.

Maerchen

1. Warum sind Märchen für Kinder so faszinierend?

Märchen führen in eine Welt, die so ganz anders ist als das rationale Hier und Jetzt. Weil dort alles möglich ist. Von oben kann es Gold regnen, Haselnüsse erfüllen Wünsche, Menschen können sich in Tiere verwandeln oder umgekehrt und Tische decken sich ganz von alleine. Damit nehmen diese Geschichten einen Blickwinkel ein, der dem eines Kindes sehr vertraut ist.

„Kinder denken genauso magisch, wie es Märchen beschreiben“, erklärt Sabine Lutkat, die auch Pädagogin und professionelle Märchenerzählerin ist. „Alles, was ein Kind sich nicht rational erklären kann, löst es durch einen magischen Blick auf die Welt. Ob das nun Tiere sind, die sprechen können, oder verwunschene Brunnen – für die kindliche Fantasie ist das ganz selbstverständlich, weil für sie mit ihrem zauberhaften Denken ohnehin alles beseelt und voller Wunder ist.“ Insofern gelingt es Kindern viel leichter als uns Erwachsenen – für die die meisten Märchen ursprünglich erzählt wurden –, sich für diese magischen Abenteuer ganz und gar zu öffnen, sich mit den Helden zu identifizieren und starke Gefühle zu durchleben, während die Geschichte voranschreitet.

2. Was können Märchen der Entwicklung von Kindern schenken?

Was Märchen einem Kind schenken, ist ungefähr so unerschöpflich wie die gewaltige Anzahl an Märchen selbst. Und zwar in den verschiedensten Bereichen. Märchen haben 1001 Talente: Sie bereichern durch ihre poetische Sprache den reinen Alltagssprachschatz, machen Lust auf Literatur, fördern die Freude am Sprechen, sind ein ausgezeichneter Kreativitäts-Motor und „regen die Fantasie der Kinder an, in Bereiche zu denken, die das Mögliche sprengen“, wie Sabine Lutkat es auf den Punkt bringt.

Der Tausendsassa Märchen kann aber sogar noch mehr. Kinder, die regelmäßig beim Erzählen dieser magischen Abenteuer mitfiebern, lernen dabei Empathie, entwickeln ein Verständnis für traditionelle Werte und ebenso, wenn sie mit Märchen aus anderen Kulturen in Kontakt kommen, für Toleranz und Offenheit.

Kinder Maerchen

Darüber hinaus sind Märchen ein wahrer Dünger für die Ich-Entwicklung, weil sie es so leicht machen, sich mit den Figuren sowie deren Konflikten, Gefühlen, Hoffnungen zu identifizieren. Immerhin sind die Helden in vielen Märchen selbst noch Kinder und ihr Entwicklungsprozess im Laufe des Märchens liefert den kleinen Zuhörern Impulse und Vorbilder. Besonders wertvoll ist an dieser Stelle, dass Märchen Kinder die Gelegenheit geben, sich mit Ängsten auseinanderzusetzen: Dabei gelingt es ihnen durch die klare Märchen-Struktur, die alles Überflüssige weglässt, Gut und Böse genau benennt sowie stets ein Happy End bietet, ausgiebig Mut, Vertrauen und Selbstbewusstsein zu schöpfen. Denn die Botschaft der Märchen ist schließlich: „Vertraue dir selbst und den guten Kräften – dann wirst du glücklich.“ Und, weil im Märchen für den Helden meist von irgendwem Hilfe naht: „Du bist nicht allein.“ Übrigens nehmen die Kinder dabei nicht nur mit, dass sich schwierige Situationen lösen lassen. „Auch das Lustgruseln beim Zuhören hilft ihnen“, unterstreicht Sabine Lutkat, „weil sie hier die Chance haben, einen spielerischen Umgang mit Angst zu erlernen.“

Nicht zuletzt lernen Kinder durch Märchen und deren starke Bildsprache die Welt auf einer symbolischen Ebene kennen. Dabei ist es allerdings zu ambitioniert, mit ihnen die Symbole, die in jedem Märchen versteckt sind, zu besprechen. Denn Kinder brauchen hierzu gar keine großen Erklärungen, sie erklären sich Märchen vielmehr selbst durch ihre magische Denkweise. „Die psychologischen Hintergründe der Symbole sind etwas fürs Erwachsenenalter“, sagt Expertin Lutkat. „Bei Kindern geht es eher darum, ihnen den natürlichen Zugang zum Bildhaften zu ermöglichen und sie dazu anschließend zum Beispiel ein Bild malen zu lassen.“

3. Sind Märchen nicht oft zu grausam für Kinder?

Eltern kommen bei Märchen häufig ins Grübeln: Wenn Gewaltdarstellungen im Fernsehen ihrem Nachwuchs schaden, müssten Märchen doch in vielen Fällen ebenso auf den Index, oder? Immerhin werden hier Hexen lebendig im Ofen verbrannt, Mädchen hacken sich die Fersen ab und böse Stiefmütter müssen in glühenden Pantoffeln tanzen, bis sie tot umfallen. Alles durchaus grausam wirkende Elemente, was Märchenkritikern ebenso missfällt wie das vermeintliche Schwarz-Weiß-Denken der Märchen.

Armin Krenz, Wissenschaftsdozent für Entwicklungspsychologie und Elementarpädagoge sowie Mit-Verfasser des Buchs Märchen-Lieder-Zeit. Märchen – gesungen, gespielt, gedeutet, teilt diese Sicht nicht: „Kinder brauchen und suchen eine klare Orientierung, was gut und böse ist, und keine gummiartigen, nicht griffig fassbaren Aussagen. Ihnen gibt es beim Zuhören Sicherheit, dass zum Schluss stets das Gute belohnt und das Böse bestraft wird. Wenn die Hexe im Ofen verbrennt, verbrennt für sie kein Mensch, sondern das Böse“, erklärt er. „Außerdem wird in keinem Märchen das Leid der bestraften Person explizit ausgeführt.“

Wolf Maerchen

Sabine Lutkat weiß durch ihre praktischen Erfahrungen als Märchenerzählerin zudem, dass es etwa bei „Hänsel und Gretel“ für junge Zuhörer „viel problematischer ist, dass der eigene Vater die Geschwister im Wald aussetzt“. Und dass es bei den grausamen Märchenelementen immer darauf ankommt, wie diese den Kindern vermittelt werden: „Schlecht ist, wenn sie das Märchen als Film mit gruseliger Musik sehen, ohne dabei von den Eltern oder einer anderen Bezugsperson begleitet zu werden. Wenn die grausamen Elemente aber in einer geborgenen Erzählsituation zur Sprache kommen, gehen Kinder damit sehr gut um. Der Vorteil am Erzählen ist auch: Man sieht sofort, wie sie reagieren, wann sie sich gruseln – und kann reagieren.“

4. Welche Märchen sind für welches Alter besonders geeignet?

Grundsätzlich sind Märchen in jedem Alter ein Schatz, egal, ob Kleinkind oder Erwachsener. Entscheidend ist gerade bei den ganz Kleinen, dass das Märchen zum Alter passt. Schon, wenn sie kaum reden können, lieben sie es, wenn sich mit der Erzählstunde das Tor zu Prinzessinnen und Feen, sprechenden Tieren und magischen Momenten öffnet.

Als Einstieg empfiehlt Sabine Lutkat Kettenmärchen. Bestes Beispiel: „Der dicke fette Pfannkuchen“. „Die Struktur, dass hier etwas passiert, sich dann immer wiederholt und bauen und unverwechselbarer zu werden, interessiert es sich besonders für Themen, wie sie „Die Bremer Stadtmusikanten“, „Die drei Federn“ oder „Schneeweißchen und Rosenrot“ vorstellen.

Maerchen Kinder

5. Gibt es auch Märchen ohne Rollenklischees?

Viele meinen, dass das Motiv der Prinzessin, deren Lebensglück davon abhängt, dass der Prinz sie aus einem Turm oder der Armut befreit, nach 100 Jahren Tiefschlaf wachküsst und stets garantiert heiratet, in Märchen etwas übermächtig sei. Und ein Blick auf die bekanntesten Grimm’schen Märchen scheint das zu bestätigen.

Tatsächlich gibt es jedoch viele starke Frauenfiguren, wenn wir über diesen Tellerrand hinausschauen. Sabine Lutkat hat inzwischen Tausende Märchen aus der ganzen Welt gelesen und sagt: „Die, in denen Frauen eher passiv sind, machen weltweit nur einen Bruchteil dieses riesigen Schatzes aus. Es gibt sogar Märchen, in denen Frauen die Männer erlösen. Insofern kann ich nur dazu ermuntern, in allen Kulturen auf Märchenentdeckungsreise zu gehen und dabei die unzähligen starken Frauenfiguren kennenzulernen.“ Auch ansonsten rät die Märchenerzählerin dazu, bei der Auswahl der Geschichten stets offen zu bleiben und sich nicht nur auf die in Deutschland sehr bekannten Grimm’schen Titel zu fixieren: „Egal, ob irische, norwegische, asiatische, amerikanische oder englische Märchen – es lohnt sich immer, nach Neuem zu stöbern.“

6. Wie wecken Eltern beim Kind die Neugier auf Märchen?

Futter für die Fantasie funktioniert glücklicherweise bei Kindern immer. Insofern reicht tatsächlich meistens schon ein simples „Komm, ich erzähle dir jetzt mal eine spannende Geschichte“, um sie zu erreichen. Damit diese Neugier nicht nur anhält, sondern beim Vorstellen all der zauberhaften Gestalten, Irrungen und Wirrungen noch weiter wächst, ist die wichtigste Zutat ebenso simpel: „Wenn ich eine Geschichte erzähle, muss ich selbst Freude an ihr haben, um das wirklich vermitteln zu können“, weiß Sabine Lutkat als langjährige Märchenerzählerin. „Wer ein Märchen erzählt, ist automatisch sein Bürge und muss hinter dem Inhalt stehen. Gerade Kinder spüren, wenn Eltern mit der Geschichte nichts anfangen können.“

Unnötig für die Pflege der Märchenbegeisterung ist es hingegen, dem Kind ständig eine riesige Auswahl zu bieten. Oft begeistert es sich wochen- und monatelang für ein und dieselbe Geschichte und findet es kein bisschen langweilig, sie wieder und wieder erzählt zu bekommen. Weil ihm das Märchen durch die Wiederholung immer vertrauter wird und es sich sicher fühlt, wenn es bereits weiß, dass nach all der Spannung am Ende alles gut wird. Lutkat: „Hier kann man sich beruhigt von den Kindern leiten lassen, sie haben super Antennen dafür, welches Thema ihnen gerade guttut.“

Eine Befragung des Internationalen Zentralinstitutes für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) in München unter Mädchen und Jungen zwischen 3 und 13 Jahren kam übrigens zu dem Ergebnis, dass Kinder im Schnitt spontan fünf Märchen nennen können. Dabei ist die Welt von „Es war einmal …“ für viele Mädchen und Jungen der erste Kontakt mit Literatur. Insofern lohnt es sich, die natürliche Neugier auf Märchen quasi als Eingangspforte zum unerschöpflichen Reich der Bücher besonders zu fördern. Nicht zuletzt, weil Märchenelemente inzwischen ebenso ganz andere, extrem erfolgreiche Bereiche der Kultur inspiriert haben. Bestes Beispiel: Die Harry Potter-Romane. „Die gehören zwar eher zur Fantasy-Literatur“, erklärt Sabine Lutkat, „aber der große Fantasy-Boom der letzten Jahre wäre ohne Märchen nicht denkbar gewesen.“

Illustrationen: Maciej Sojka/ Gettyimages; Gettyimages