Alexa Hennig von Lange: “Ich bin ein Familienmensch”

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Alexa Hennig von Lange ist seit vielen Jahren als Autorin aktiv – auch für das Luna Magazin schreibt sie regelmäßig eine Kolumne. Vor kurzem hat sie ihren neuesten Roman veröffentlicht, “Die karierten Mädchen”, für den sie sich vom Leben ihrer Großmutter hat inspirieren lassen.

Liebe Alexa, im Buch „Die karierten Mädchen“ geht es um deine Großmutter und ihre Erlebnisse während des Dritten Reiches. Habt ihr euch eigentlich nahe gestanden?

Alexa Hennig von Lange: Meine Großmutter war eine eher strenge, distanzierte Frau. In meiner Kindheit  haben wir sie relativ häufig besucht und wir Kinder haben unsere Lebendigkeit dabei stark gedrosselt, denn wir haben schnell gemerkt, dass bei ihr Wohlverhalten angezeigt ist. Meine Großmutter war Lehrerin und hat im Grunde alle in ihrem Umfeld ständig erzogen. Allein schon um diesen Maßregelungen aus dem Weg zu gehen, hat man sich eher unauffällig verhalten.

Wie bist du auf ihre Geschichte gekommen?  

Meine Großmutter hat in den letzten Lebensjahren ihre Erinnerungen auf Tonbänder aufgenommen, da sie fast erblindet war und nicht mehr schreiben konnte. Insgesamt hat sie 130 bis 150 Kassetten besprochen mit ihren Erlebnissen aus der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der Weltwirtschaftskrise, dem Zweiten Weltkrieg bis in die 60er Jahre der Bundesrepublik. Diese Kassetten hat meine Mutter aufbewahrt und sich immer mal wieder angehört oder Notizen dazu gemacht. Sie hat uns Kindern auch wiederholt gesagt, wir könnten uns die Kassetten anhören. Ich war nur nicht wirklich scharf darauf, denn die Weltsicht meiner Großmutter war mir immer sehr kategorisch erschienen. Ich habe mich gefragt: Was soll ich auf den Kassetten schon groß hören, was nicht die nächste Beklemmung zur Folge hat?

Irgendwann hat es mich aber doch interessiert, wer meine Großmutter eigentlich war. Denn je größer die eigenen Kinder werden, desto mehr ist Raum da sich zu fragen: Woher komme ich eigentlich? Wer die Eltern sind, klärt man ja in der Regel als Teenager. Doch ich wollte wissen: Wer war eigentlich meine Großmutter, weil auch sie immer wieder in meinen Erinnerungen auftauchte. Durch ihre Tonbandaufzeichnungen habe ich eine ganz andere Frau kennen gelernt, die viel fröhlicher und risikobereiter war als ich das je für möglich gehalten hätte.

Wie schaffst du es in einem Roman wie diesem, dich dem doch sehr persönlichen Stoff anzunähern und trotzdem nicht zu viel preiszugeben?

Ich persönlich habe nie das Gefühl, ich würde zu viel preisgeben, weil ich das was ich schreibe immer als Kunstprodukt sehe. Ich habe Erinnerungen – oder in dem Fall die meiner Großmutter – und gestalte sie zu einem dramaturgischen Bogen. Der ist schon künstlich, weil ich nur bestimmte Aspekte beleuchte, nur bestimmte Erinnerungen nutze und nicht alles. Ich mache daraus eine Geschichte, die auf den tatsächlichen Ereignissen fußt und dennoch verbinde ich das so, dass es für mich immer Fiktion ist. Deswegen finde ich die Frage was erzähle ich, was erzähle ich nicht, für mich selbst nicht schwierig. Es ist eher für andere schwierig, die sich dann darin wiederfinden – oder glauben sich wiederzufinden. Für die stellt sich viel eher die Frage: Oh, hast du mich so gesehen, war es wirklich so? Von außen ist es viel schwieriger zu erkennen, was ist Fiktion und was ist Realität.

Nach der Beschäftigung mit den Lebenserinnerungen – was glaubst du, wie hat dich deine Großmutter geprägt?

Das ist eine interessante Frage. So wie sie sich in die Welt gestellt hat oder auch ihr späterer Rückzug vor der Welt, den ich als Kind sehr stark mitbekommen habe. Dass sie ihr Haus eigentlich nicht mehr verlassen hat, und nur wenige Leute sie besuchen durften, dass sie eine spürbare Angst vor dem Außen hatte, das hat mich doch mehr geprägt als ich gedacht hatte. Nicht dass ich selber Angst hätte die Wohnung zu verlassen. Aber dieses diffuse Gefühl es könnte eine Gefahr von außen drohen, die habe ich mitgenommen ohne dass ich es wollte oder bewusst gemerkt habe. Ich habe mich immer gefragt, woher kommt das diffuse ungute Gefühl und wie werde ich das wieder los. Auf diesem Umweg kam ich wieder zu meiner Großmutter und den Tonbandkassetten, weil ich mich dann auch fragte, warum hat sie sich eigentlich so zurückgezogen. Mit diesem Verstehen wollte ich auch diesen Aspekt bei mir selbst auflösen. Gleichzeitig habe ich aber auch sehr schöne Dinge von ihr mitbekommen: die Freude am Kochen und am Haushalt, die Freude an der Literatur, am Lesen, am Schreiben.

Hast darüber auch mit deiner Mutter gesprochen, die ja viel enger mit deiner Großmutter war als du?

Ja, das war sehr berührend. Denn über meine Großmutter wurde im Grunde nie viel gesprochen in der Familie. Sie und ihr Verhalten durften nicht in Frage gestellt werden und es durften auch keine Nachfragen zu ihrer Vergangenheit gestellt werden. Das ist in ganz vielen Familien so, dass über das Vergangene, über die Großelterngeneration nie richtig gesprochen wird. Während ich „Die karierten Mädchen“ geschrieben habe, habe ich eng mit meiner Mutter zusammen gearbeitet, weil sie natürlich noch viel mehr Hintergrundwissen hatte. So musste sie notgedrungen anfangen mit mir zu sprechen. Es war schon erstaunlich welche Räume sich darüber geöffnet haben, dass wir offen über das Vergangene sprechen konnten und darüber auch gelernt haben, es geht nichts verloren wenn wir das tun, sondern es klärt sich etwas. Der Abstand zu meiner Großmutter wurde dadurch nicht größer, sondern eher kleiner, weil endlich ausgesprochen werden konnte was sie war und wer sie war – weil sie ja während des Dritten Reiches im Staatsdienst tätig war bis 1941 und auch mehrere Frauenbildungsheime geleitet hatte und insofern dieses System gestützt hat.

Ein historisches Bild von den sogenannten “karierten Mädchen” (privat).

Kommen wir zu deiner Arbeit und deiner Familie: Wie schaffst du es, dir so viel Zeit zum Schreiben zu nehmen. Das ist doch etwas sehr Ichbezogenes, etwas das man in Ruhe erledigen muss. Wie organisierst du dich da mit Mann und Kindern?

Zum einen macht mir das Schreiben wirklich Freude und es ist so eng mit mir verwoben, ich empfinde das nicht als Arbeit in dem Sinne, sondern als etwas, was ich gern tue. Aber natürlich brauche ich dafür Zeit und Ruhe. Die habe ich wenn die Kinder in der Schule sind. Trotzdem sind natürlich der Haushalt und die kleinen organisatorischen Dinge zu tun, die eine Familie eben so mit sich bringen. Das ist dann wiederum Übungssache die Zeitfensterchen zu nutzen, die sich einem bieten und in diesen konzentriert und ruhig zu arbeiten – und sich nicht darüber zu ärgern, wenn doch Störungen auftreten und danach immer wieder so schnell wie möglich in die Ruhe reinzufinden.

Das kennen ja alle Mütter und Väter, dass man immer in dem Gefühl existiert hinter der Zeit zu sein und nicht alles geschafft zu haben. Gleichzeitig beobachte ich, dass sobald der Eindruck entsteht, da gibt es irgendwo noch ein kleine Zeitfenster, ich mir sofort wieder etwas reinorganisiere. Die Manie Ordnung zu schaffen, damit einem nicht alles über den Kopf wächst, ist schon enorm.

Wie finden deine Kinder das, wenn die Tür zu ist und du arbeitest. Dürfen sie dich stören oder ist das verboten?

Die Kinder sind das gewohnt, da mein Mann und ich zuhause arbeiten und Ruhe brauchen. Aber wir arbeiten eigentlich nur, wenn sie nicht da sind, oder wir wechseln uns ab. Dann ist auch im Grunde genommen klar, wer im Arbeitszimmer sitzt, der wird nur im Notfall gestört. Wobei: Notfall kann schon relativ sein… (lacht). Kann durchaus sein, dass „Mama ich habe Hunger und finde das Toastbrot nicht“ als Notfall durchgeht.

Habt ihr euch die sogenannte Care-Arbeit fity-fifty aufgeteilt du und dein Mann?

Ja, das lag uns beide am Herzen, dass wir das gemeinsam machen. Mein Mann kümmert sich wahnsinnig gerne um Versicherungen und irgendwelche Telefontarife (lacht) und Autoreperaturen und hängt supergerne in der Warteschleife… was ich alles gar nicht gerne tue. Und ich koche und wasche und mache die Betten und organisiere Kindergeburtstage… Da haben wir schon unserer Bereiche. Aber was Hausaufgabenhilfe anbelangt oder die Kinder von der Schule abholen, einkaufen usw., das teilen wir uns oder machen es auch gerne zusammen. Und das klappt auch ganz wunderbar.

Das Buch ist bei Dumont erschienen für 22 Euro. Der zweite Band wird 2023 veröffentlicht.

Und wie klappt bei euch das Leben als Patchwork-Familie?

Das ist bei uns kein Thema. Wir sind ja schon sehr lange eine Patchwork-Familie. Als wir uns kennengelernt haben und ich bereits zwei Kinder von zwei verschiedenen Vätern hatte, war das ein Riesenthema. Ich weiß nicht wie viele hundert Stunden wir uns damit auseinander gesetzt haben, Lösungen gesucht haben, uns da irgendwie zusammen finden mussten – alle miteinander. Das hat alles gut geklappt, aber mit sehr vielen Gesprächen, sehr vielen Einsichten, sehr viel Verständnis, so dass das alles heute nicht mehr fühlbar ist. Mein Mann ist genauso Ansprechpartner für die großen Kinder, auch seine Mutter ist da für die Großen, der Vater meiner Tochter heißt auch bei unseren Kindern Papa-Christoph und ist von allen geliebt… Wir haben nicht die Begriffe Halbgeschwister oder Stiefgeschwister. Die Geschwister sind Geschwister und die Liebe zueinander ist groß, die fünf sehr innig miteinander… Patchwork spielt für die Kinder also überhaupt keine Rolle. Und für uns Erwachsene auch nicht. Zum Glück sind aber auch bis zu den Großeltern alle sehr familiär…

Ihr feiert also die Familienfeste zusammen?

Ja, zur Einschulung zum Beispiel kommen alle. Da sitzen dann alle am Tisch, Tanten, Onkel, Großeltern, Papas… und es ist immer sehr, sehr schön. Es ist ein Riesengeschenk, dass sich alle gut miteinander verstehen und eine große Dankbarkeit da ist, dass alle sich mögen.

Ich kenne das eher so, dass es nicht so gut funktioniert.

Ja, es ist auch viel Arbeit! Man muss sich verabschieden von bestimmten Bildern und Vorstellungen. Mein Mann und ich haben festgestellt, dass durch das Loslassen von bestimmten Vorstellungen viel mehr Familie entstanden ist, auch viel mehr Ordnung als wenn wir beide an all dem festgehalten hätten. Aber es ist natürlich auch so, dass wir immer mehr akzeptieren konnten, was die Ideen und Vorstellungen des anderen sind und dass wir bereit waren zu sagen: Gut, dann machen wir das jetzt so –  und dann war es auch in Ordnung. Manches musste einfach gemacht werden, damit man es dann für sich abhaken konnte. Mein Mann wollte zum Beispiel immer zum Zelten gehen. Ich finde Zelten so ätzend (lacht), oh Gott! Aber irgendwann sagst du dann halt: Na ja, jetzt lass uns eben Zelten gehen. Dann ist es auch ganz schön und danach ist das Thema erledigt.

Du bist also nicht bekehrt worden?

Nein! Aber es ist witzig, denn mein Mann würde jetzt auch nicht mehr campen wollen. Manche Sachen muss man einfach einmal durchmachen, dann kann man sie ad acta legen.

Ja man muss dem Partner den Raum lassen, dass er sich auch Träume erfüllen kann….

Na ja, damit er aber auch sehen kann, was für ein dummer Quatsch das ist (lacht herzlich).

IMMER AUF
DEM NEUSTEN
STAND SEIN!

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Wenn du eine Auszeit brauchst, was machst du dann – oder brauchst du das nicht, weil du der geborene Familienmensch bist?

Das brauche ich wirklich nicht. Nur manchmal wenn ich Lesungen habe, fahren mein Mann und ich gemeinsam hin. Das ist für uns beide total schön: Wir sitzen im Auto und erzählen uns einfach etwas. Und wenn wir dann doch einmal in einem Hotel übernachten müssen, ist es schön, dass wir morgens nicht gleich aufspringen und Frühstück machen müssen…

Aber ansonsten bin ich doch am liebsten mit meiner Familie zusammen. Dass ich sage, ich brauche jetzt mal ein Wochenende für mich, das würde ich kaum aushalten, das fände ich ganz entsetzlich. Dafür bin ich doch zu sehr Familienmensch.

Und was tust du für dich, für dein Aussehen, denn du siehst immer total jung und frisch aus?

Das freut mich. Ich hoffe es liegt an meiner gesunden Ernährung. Ich bin Veganerin und mache Intervallfasten, trinke keinen Alkohol, esse keinen Zucker, mache Yoga (lacht). Ich benutze kein Botox, versuche aber ausreichend zu schlafen. Und es macht mir insgesamt alles recht viel Freude! Ach ja: Und ich habe eine sehr gute Kosmetikerin.

Auf “Die karierten Mädchen” sollen noch zwei Teile folgen. Wie ist denn der Ausblick des Dreiteilers?

Im ersten Teil geht es um die Weltwirtschaftskrise und die Vorkriegszeit in der sich meine Hauptfigur Klara erst einmal ihren Lebenstraum erfüllt bekommt, da sie eine feste Anstellung bekommt. Es ist eine Zeit in der viele Arbeitslose die Straßen bevölkern, doch sie darf als Lehrerin Schülerinnen in Haushaltskunde unterrichten, sie verliebt sich und es so scheint, als würde ihr die Welt offen stehen. Im zweiten Teil von 1939 bis 1949 geht es um die Kriegsjahre und die Nachkriegszeit und um das Erwachen in der Realität. Klara merkt worauf sie sich eingelassen hat, mit diesem System und den Nationalsozialisten. Und nun hat sie damit zu tun, sich daraus wieder zu befreien und anzuerkennen, worin sie sich verstrickt hat. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Flucht aus dem Osten in den Westen und den Aufbau eines neuen Lebens in der Bundesrepublik in den Sechziger Jahren.

Gibt es Angebote zur Verfilmung?

Nein, noch nicht. Ich denke dafür müssen die drei Bände erst einmal stehen. Das wäre natürlich spannend und toll, auch weil es die Orte in denen die Romane spielen noch gibt.

Wir freuen uns schon auf den zweiten Band…

Ja, der wird spannend. Ich mag den zweiten Teil sogar noch lieber als den ersten Teil.

Vielen Dank für das Interview, Alexa!

Bilder: privat/Marlen Krippendorf (2)