Das Kind will nichts als Nudeln essen oder auf Bildschirme starren? Den ganzen Tag zeichnen oder Rennauto spielen? André Stern ermutigt zur Gelassenheit und meint: Kinder brauchen Rituale, Homeschooling kann gar nicht funktionieren, und Erwachsene sind Bonsais.
Luna-Autorin Doris Barbier hat den französischen Bestsellerautor, Gitarrenbaumeister, Komponisten, Musiker und gefragten Referenten in Sachen Familienthemen zum Interview getroffen.
Sie sind mit Ihrem Buch „… und ich war nie in der Schule“ bekannt geworden. Gehen Ihre Kinder heute eigentlich zur Schule?
André Stern: Nein, bis jetzt nicht. Aber das hat sich einfach so ergeben und war in keinem Fall von uns so geplant. Wir wären auch nicht enttäuscht, wenn sie eines Tages den Wunsch äußern sollten, dass sie doch in die Schule gehen wollen. Es geht nicht darum, dass wir irgendeine Idee oder Theorie in die Praxis umsetzen möchten. Wir respektieren und begleiten das Projekt unserer Kinder, wollen ihnen aber auf keinen Fall etwas vorschreiben.
Apropos Schule – viele Eltern waren während der Lockdowns in der Pandemie mit dem Homeschooling überfordert. Haben Sie als „Homeschooling-Kind“ irgendwelche Tipps?
Home und Schooling – genau in dieser Kombination – sind die beiden schlimmsten Dinge, die uns passieren können, und absolut inkompatibel. Das Zuhause ist der sichere Hafen oder das Nest, die Schule hingegen symbolisiert das „Draußen“. Heimunterricht, also Homeschooling, kann deshalb gar nicht funktionieren. Das Schlimmste, was einem Kind passieren kann, ist, zu Hause bleiben zu müssen und während des Hausarrests gleichzeitig Unterricht zu haben. Die Kombination aus diesen beiden Dingen kann ja nur fatal sein.
Es ist auch seltsam, dass wir den Begriff „lernen“ immer noch mit der Kindheit assoziieren, denn man lernt ja eigentlich sein ganzes Leben lang. Ich persönlich bin keiner, der gerne Tipps gibt oder Lektionen erteilen will. Man kann jeden nur auffordern, sich Menschen auszusuchen, die mit gutem Beispiel vorangehen und so als Vorbild fungieren können.
Das Positive, was Krisenzeit wie diese mit sich gebracht haben, ist die Tatsache, dass viele Eltern feststellen mussten, sich geirrt zu haben. Weil sie davon ausgegangen sind, dass Chaos entsteht, wenn ein Kind seine Freiheit auslebt. Das stimmt aber nicht. Ein freies Kind liebt Rhythmen und Rituale. Und sehnt sich nach festen Regeln.
Kinder mögen Chaos nicht, weil es verunsichert. Unordnung und Chaos machen sie schnell orientierungslos, und Kinder brauchen einen Rahmen. Sie lieben es beispielsweise, dass das Essen immer zur selben Uhrzeit auf den Tisch kommt oder dass man ihnen jeden Abend zur selben Zeit die Gute-Nacht-Geschichte vorliest. In dieser Epoche, in unserem chaotischen neuen Alltag, wo alles unsicher ist, werden Rituale zum Rettungsring. Das wird bleiben, auch nach der Pandemie.
Wir Eltern begeben uns oft auf eine Gratwanderung zwischen dienen und fürsorglich sein. Wie kann man vermeiden, sich von den Kindern total vereinnahmen zu lassen? Die Gefahr „aufgefressen zu werden“ besteht, oder?
Der Ursprung allen Übels dieser Erde ist das Patriarchat. Es steht im Hintergrund dieser Gratwanderung. Wir haben, was die Kindererziehung betrifft, ein Konzept entwickelt, das leider nicht mit der Realität übereinstimmt. Dieses Konzept kann nur ein Mann entwickelt haben. Es ist doch absurd zu meinen, dass ein Kind zum Tyrann werden kann, wenn man seine Wünsche und Bedürfnisse respektiert. Es herrschte ja auch lange die schwarze Pädagogik (wie sie von Alice Miller genannt wurde), die aus den 1930er-Jahren stammt und mehrere Jahrzehnte tonangebend war. Das Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von Johanna Haarer hat sich im deutschsprachigen Raum noch bis in die 1980er-Jahre millionenfach verkauft. Generationen von Müttern haben dieses Buch gelesen. Und diese absurden Ideen, wie zum Beispiel, dass das Kind unbedingt im eigenen Bett schlafen solle oder man es doch auch mal schreien lassen könne, wurden doch tatsächlich für bare Münze genommen. Wie konnte man nur jahrzehntelang Millionen von Kindern so viel Leid zufügen!
Sie sind in Frankreich geboren und aufgewachsen. Gibt es Ihrer Meinung nach heute noch Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, was die Kindererziehung betrifft?
Eines ist klar: Wenn du in Frankreich nicht nach drei Monaten zurück zur Arbeit gehst, bist du eine schlechte Frau, wenn du in Deutschland nach drei Monaten zurück zur Arbeit gehst, bist du eine schlechte Mutter. In beiden Fällen handelt es sich um Manipulation.
Und dann gab’s in den 1970er-Jahren die konträre Bewegung, die antiautoritäre Erziehung.
Diese „Laissez faire“-Methode … Auch das war ein Konzept von Erwachsenen und beruht nicht auf der Natur des Kindes. Die antiautoritäre Bewegung der Hippiegeneration war sozusagen das Kontrastprogramm zu den Methoden der vorherigen Generation. Beide haben große Fehler begangen und die Natur des Kindes buchstäblich mit Füßen getreten. Die Behauptung, das Kind müsse lernen, dass die Mutter oder der Vater der Chef sei, ist einfach falsch. Das Kind ist nämlich der geborene Nachahmer. Ein Kind, das respektiert wird, wird aus diesem Grund auch nie respektlos handeln. Deshalb ist es an uns Eltern, den Kindern Respekt vorzuleben. Wir müssen unseren Kindern den richtigen Weg zeigen, mit gutem Beispiel vorangehen. Und nie vergessen: Es gibt im Konfliktfall immer noch die Möglichkeit des Loslassens, statt stur auf Konfrontationskurs zu gehen. Auch das Loslassen wird das Kind nachahmen.
Warum sind Rituale so wichtig? Wir Erwachsenen tun doch eigentlich alles, um so wenig Rituale sprich Routine wie möglich zu haben, damit keine Langeweile aufkommt.
Wissen Sie, ich frage mich oft, warum wir uns das Leben absichtlich schwer machen. Wir huldigen ja einem richtigen „Kult der Mühe“, sobald uns die persönliche Begeisterung verlässt. Das ist doch absurd. Wenn uns etwas wirklich begeistert, dann bemerken wir die Mühe gar nicht, obwohl wir uns dabei anstrengen. Mit anderen Worten: Wenn wir bei einer Tätigkeit große Mühe empfinden, sollten wir davon ablassen. Kinder funktionieren noch so. Deshalb sollte man bei unseren Kindern zuallererst Begeisterung wecken. Denn so empfindet das Kind dann auch keine Mühe und braucht auch keine Abwechslung.Ich verstehe nicht, warum wir oft so wichtige Dinge für nichtig erklären. Und umgekehrt: Ich mache mir heute Sorgen um die Menschheit, denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das gleichzeitig so viel Energie konsumiert und aufbringt. Die Natur macht genau das Gegenteil: Alle Gesetze der Natur beruhen auf dem Prinzip des geringsten Widerstands. Nehmen Sie die Millionen Volt eines Blitzes. Der sucht sich immer den kleinsten Blitzableiter, den mit dem geringsten Widerstand. Nur wir suchen immer nach Schwierigkeiten und verherrlichen die Anstrengung. Man sollte unseren Kindern lieber sagen „Mensch, heute warst du wirklich begeistert!“ und nicht, „Da hast du dich aber wirklich angestrengt!“
Zwischen „das Kind ist König“ und Helikoptereltern … Sind wir heute nicht alle ein bisschen „Lost in Education“?
Das Kind will auf Augenhöhe mit uns leben. Und dafür will es auf unsere Seite kommen, so sein wie wir. Es strebt einzig und allein danach, das Gefühl zu bewahren, das es schon bei seiner Geburt hatte, nämlich zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Es will nicht groß, klein, stark oder schwach sein, es will einfach so sein, wie es ist. Das Kind weiß, dass es klein ist und die Erwachsenen groß. Das Kind fühlt sich als Teil einer ganz großen Welt und braucht sich nicht zu behaupten.
Das Gegenteil wäre es, ständig den Eindruck zu haben, auf nichts im Leben direkt Einfluss nehmen zu können. Das ist schrecklich und kann zerstörend sein. Das Kind kämpft gegen dieses Gefühl der Machtlosigkeit an. Ein begeistertes Kind verbindet Zeit, Raum und Schicksal und kann von sich behaupten: „Ich verändere die Welt, die Welt verändert mich.“ Das nennt man gestalten. Genau danach sehnen wir uns unser ganzes Leben lang.
Der Erwachsene ist ein Bonsai, nur mehr die Schattenversion seiner selbst“, sagen Sie in Ihrem Buch. Das Kind ist der Riese und hat noch Potenzial. Was können wir von dem Kind in uns lernen? Oder wie können wir das Kind in uns wieder lebendig machen?
Ein Kind kann alles werden und alles lernen. Das genetische Programm stattet uns fürs Überleben aus, und das ist eine geniale Erfindung. In dieser riesigen Menge an Potenzialen picken wir uns diejenigen heraus, die wir wirklich brauchen, das sind ja nur einige wenige. All die anderen gehen im Laufe der Zeit verloren. Am Ende sind wir also nur mehr der Schatten der Person, die wir hätten sein können. Eine Bonsaiversion unserer selbst. Das Kind dagegen besitzt noch sein volles Potenzial. Wir alle müssen uns die Frage stellen: Was ist es, das uns irgendwann so richtig in den Bann zieht, was ist es genau, das uns dazu bringt, Berge versetzen zu können? Was ist der Motor für unsere Energie, unsere Begeisterung? Deshalb sollten wir uns auch nicht die Frage stellen, was kann ich gut, sondern vielmehr: Was begeistert mich?
Wir haben von unseren Kindern so viel zu lernen: diese unglaubliche Neugier und Offenheit, die Abwesenheit von Vorurteilen. Diese Ausdauer, diese Aufnahmefähigkeit eines Kindes würde ich gerne bei jedem Menschen aufblühen sehen. Dann hätten wir eine ganz andere Welt, als die, die wir jetzt kennen. Es ist Zeit für eine neue Gesellschaft, eine neue Weltordnung. Sie hat schon begonnen. Wir sind gerade mittendrin in der Metamorphose. Wir erleben den sichtbar gewordenen Anfang.
Zur Person
André Stern ist Experte und gefragter Referent zum Thema „Freilernen“. Sein Buch “... und ich war nie in der Schule” (ZS Verlag 2009) wurde ein internationaler Bestseller. In seinem jüngsten Buch schreibt er über “Die Rhythmen und Rituale unserer Kinder” (Beltz Verlag 2021). Sein Vater Arno Stern ist der Begründer des „Malspiels“ und hat maßgeblich an der Entwicklung moderner Kunsterziehung mitgewirkt. André Stern ist verheiratet und hat zwei Söhne: Antonin (12), Benjamin (6).
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